15.08.2008

Die Reise nach Sundevit

Das lange bayerische Wochenende nutzen wir zu einem Ausflug in den Norden. In Hamburg steht ein nettes Privatquartier zur Verfügung, von dem aus wir per Motorrad die Umgebung erkunden wollen.
Als erster Programmpunkt stand eine Zeitreise auf dem Plan. Ich wollte gern den Ort wiedersehen, an dem ich das Licht der Welt erblickte (Grevesmühlen) und die ersten Jahre meines Lebens verbrachte (Steinbeck). Erster Eindruck der Umgebung: Im Norden kann man ja durchaus Motorrad fahren! Es gibt tatsächlich Kurven, die Landschaft ist nett, und wenn man erst einmal dem Hamburger Speckgürtel und den Bundesstraßen entkommen ist, dann hat man die Straßen fast für sich allein. Und die legendären Kopfsteinpflasterstraßen gibt es natürlich auch, sogar im Westen!
Von Mecklenburg war ich dann etwas enttäuscht. Oder vielmehr: Es war ganz anders als in meinen Erwartungen, die sich aus diffusen Kindheitserinnerungen, DDR-Nostalgie und Meck-Pomm-Klischees speisten. Am meisten überraschte mich, wie viele neugebaute Eigenheime es selbst im letzten Kuhkaff gibt. Leerstehende oder verfallene Gebäude habe ich nur wenige gesehen, eigentlich nur alte LPG-Hallen.
An Grevesmühlen hatte ich natürlich keinerlei Erinnerungen mehr, die ich mit der Wirklichkeit vergleichen konnte. So blieb es bei einem Schnappschuss vor dem Krankenhaus, in dem ich vielleicht geboren wurde (es sah verdammt nach Neubau aus). Aber je näher wir der Küste kamen, desto mehr stieg meine Spannung. Das Ostseebad Boltenhagen, in dem ich als Kind einige Urlaube verbracht habe, schockierte mit einer schrecklichen Kommerz-Strandmeile, Touristenmassen und 2,50 Euro Strandeintritt. Hier hielten wir es nicht lange aus. Also weiter nach Steinbeck, ein Weiler mit fünf Höfen direkt an der Ostseeküste, mein erster Wohnort. Was soll ich sagen: Ich habe nichts wiedererkannt. Selbst an unserem ehemaligen Wohnhaus bin ich vorbeigefahren (es sieht zugegeben auch ganz anders aus als früher). Schließlich fand ich mich doch zurecht und fuhr 'runter zum Strand (natürlich auf einer Asphaltpiste anstelle des alten Plattenweges). Am Ende des Weges lauerte ein kostenpflichtiger Parkplatz.
In mir brodelte es. Was ist hier passiert? In meinem Hirn sind ganz andere Bilder abgespeichert. Die Gegend war früher Grenzgebiet, dünn besiedelt, unterentwickelt. Nach Steinbeck führte nur eine Sandpiste, auf der sich Onkel Manne mal den Auspuff seines Lada ruiniert hat. In einem der fünf Bauernhäuser gab es einen echten Tante-Emma-Laden. Der Weg zum steinigen Strand führte durch ein Wäldchen, ein Bach murmelte.
Heute ist dort alles so... normal. Nichts, was ich sehe, lässt Gefühle oder Deja-vus aus der Kindheit hervorbrechen. Aber ich weiß ich wirklich genau, was meine eigenen Erinnerungen sind und was nur gelesen und abgespeichert ist, aus Büchern wie "Die Reise nach Sundevit" oder Käuzchenkuhle (DDR-Kinderbuchklassiker)?
Ich stehe immer noch vor der Kette des bezahlten Parkplatzes, am Ende des Plattenweges aus meiner Kindheit. Die Kassiererin kommt mir bekannt vor. Es ist die Tochter unserer damaligen Nachbarn! Sie erkennt mich auch, wir unterhalten uns lange. Und unten am Strand entspanne ich mich endlich. Er hat sich nicht verändert.