02.07.2013

Allein

Die anderen: Studienfreund S., Ende 30, macht den Motorradführerschein und raspelt danach in wenigen Monaten fast 20.000 Kilometer ab auf seiner neu angeschafften 800er BMW. Immer allein. Allein war auch Kumpel K., als er vor ein paar Jahren wochenlang auf seiner XT 500 durch Rumänien tourte. Und meine Lieblingsmotorradreiseberichtschreiberin Svenja ist sowieso stets allein unterwegs, und das als Frau!
Und ich? Fahre zwar schon seit 1989 mit dem Motorrad durch die Gegend, aber fast immer in der Gruppe. Vor allem wenn es um echte Reisen geht, also mehrtägige Unternehmungen mit möglicherweise sogar fremdländischer Destination, kann mir kaum vorstellen, ohne Begleitung unterwegs zu sein. Woran das liegt, weiß ich nicht genau - vielleicht an der letztlich doch tiefverwurzelten Angst, mit einer Panne liegenzubleiben und hilflos am Straßenrand zuzusehen, wie mein bisschen Mut und Selbstbewusstsein einen Kurzschluss erleidet oder durch eine poröse Schlauchleitung entfleucht? Bin ich am Ende, trotz mindestens 100.000 größtenteils problemloser Motorradkilometer, doch ein Schisser? Oder fürchte ich vielmehr die Einsamkeit und weiß so ganz allein auf Reisen nichts mit mir anzufangen?

Allein in den Motorradurlaub zu fahren war jedenfalls nie eine Option, die ich ernsthaft in Erwägung gezogen hätte.
Und ich hatte ja auch meist das Glück, Freunde (und noch wichtiger: Partnerinnen) an meiner Seite zu haben, die mitkommen wollten. So stellte sich die Frage nach der Single-Tour in der Vergangenheit eigentlich kaum einmal. Umso überraschender wuchs während der letzten Jahre in mir das Gefühl, etwas verpasst zu haben.
Am vergangenen Freitag holte ich die SR aus der Garage und fuhr los. Es war nichts dramatisches geplant, keine Mittelmeerumrundung und natürlich auch nicht die Schottlandtour, die ich mir für dieses Jahr erträumt hatte - nein. Nur zwei Besuche bei Freunden in der Mitte Westdeutschlands. Doch die Vorfreude in mir war schon über Wochen so groß, als bräche ich in ein vollkommen neues, unfassbar cooles Leben auf.
Das war mein Plan: Mit der SR möglichst ausschließlich auf Nebenstrecken zu fahren, geleitet vom Navigationsgerät. Nun, zu Anfang klappte das noch nicht so ganz, weil ich die Routenoptionen des Tomtom nicht korrekt gesetzt hatte, aber ich kam natürlich trotzdem ans erste Ziel, wo ich das schöne Motorrad sehr malerisch vor einem der vielen Gründerzeitbauten Wiesbadens abstellte und den Rest der Nacht mit guten Freunden und dem einen oder anderen Genussmittel zubrachte.

Außer dem Thema "Alleinemotorradfahren" wollte ich an diesem Wochenende noch einen weiteren offenen Punkt in meiner Lebensplanung abhandeln. Motorradgeografisch gesehen fehlte mir nämlich jegliche Kenntnis über die nördlichen zwei Drittel des "Westens", also der alten Bundesrepublik oberhalb der Mainlinie. Von der Tour vor zwei Jahren abgesehen (und natürlich einer Unmenge, allerdings auf Autobahnen absolvierten Dienstreisen) bin ich dort noch nie gewesen. Deshalb steckte ich am nächsten Morgen meinen Kurs strikt nach Norden ab. Ziel war Stromberg, ein Städtchen im Weichbild von Münster und Bielefeld. Dazwischen: unbekannte Welten.
Direkt außerhalb Wiesbadens beginnt der Taunus - ein waldreiches Gebiet, das ich auf der B 417 (der Nebenstreckenwarp des Tomtom war noch nicht aktiviert - ein Versäumnis, das ich wenig später bemerkte) recht schnell durchmaß. An das schöne, aber unspektakuläre Mittelgebirge schloss sich ein Gebiet an, das mit seiner Mischung aus bröckeligen Dörfern und tiefergelegten Autos an manche nicht so schöne Gegend in Ostdeutschland erinnerte. Immerhin hatte das Limburger Umland mit der Kirche St. Lubentius in Dietkirchen auch ein architektonische Großod zu bieten, dessen optische Wirkung auf Wikipedia mit "ungewöhnlich monumental" noch zurückhaltend beschrieben ist.
Ich war trotzdem froh, diese Ländereien zu verlassen und durch die Ausläufer des Westerwalds in Richtung Sauerland vorzudringen. Dort tragen die Ortschaften so schräge Namen wie Netphen oder Bad Laasphe, und die Landschaft wirkt erstaunlich schroff. Nach mittlerweile zwölf Jahren in Süddeutschland lebe ich ja in dem fortwährenden Irrtum, dass es von Fulda aus nicht mehr weit bis zur Nordsee ist, und war dementsprechend überrascht, "soweit im Norden" solch hohe Berge vorzufinden. Speziell das Rothaargebirge wirkt fast so mächtig wie der Thüringer Wald und ist es mit bis zu 850 Metern Höhe auch.

Genauere Auskunft über touristische Hotspots neben der Straße kann ich allerdings nicht geben, weil ich praktisch nie anhalte, wenn ich allein fahre. Tanken, Mars und Cola zuführen, vielleicht mal eine rauchen, das war's. Aber ich erinnere mich an wunderschöne Hügellandschaften, karge Hochflächen und ganz viel Weite. Dank des elektronischen Wegweisers an meinem Lenker entging ich allem Ungemach, das der Straßenverkehr sonst mit sich bringt. Zu 90 Prozent der Zeit war ich allein mit der Straße, dem Einzylinder und mir. Und versuchte zu ergründen, warum die Menschheit jemals stärkere und schnellere Motorräder als die Yamaha SR 500 erdacht hat. Ein Irrweg.
An das hügelige und bewaldete Sauerland schloss sich eine abfallende Ebene an, von der aus man einen fantastischen Blick über das flache Bauernland hatte, das auch mein Ziel war. Nach rund fünf Stunden Fahrt und 300 Kilometern brachte ich die SR in Stromberg zum stehen, wo sie über Nacht die Garage mit einem chinesischen Chang-Jiang-Gespann und diversen Zweitakt-MZ teilen konnte. Und ihr Fahrer mit Grillfleisch, Bier und guten Gesprächen am Lagerfeuer versorgt wurde. (Da fällt mir übrigens ein: Mit meinem Gastgeber Max habe ich mich vor Zeiten auf dem Sziget-Festival in Budapest getroffen, und DAHIN bin ich tatsächlich allein gefahren).

Am Sonntag stand dann die längste Etappe an: von Stromberg zurück nach Würzburg. Auf den ersten Kilometern begleitete mich Max mit seiner grünen TS 250 namens Veronika und ließ mich nach langer Zeit mal wieder reichlich gutes 1:50-Abgas inhalieren. Danach ging es wieder allein durch die Botanik: Die genaue Route weiß ich nicht mehr, aber ich hielt mich deutlich östlicher als auf der Hinfahrt. Der Edersee und die Stadt Schotten waren noch die bekanntesten Wegmarken, sonst kam ich nur durch Dörfer, die ich genau so schnell vergaß, wie ich sie durchquert hatte. Abgesehen von den zunehmenden Schmerzen an der Sitzfläche hätte ich ewig so weiterfahren können. Aber daraus wurde nichts: Nach fast genau 1.000 Kilometern kam ich wieder in meinem Leben an.