Ras-mussen Review 1998: Polen

Juli 1998: Eine Landschaft, die nur aus wohlgeformten Hügeln besteht, schmale Landstraßen, die sich anmutig um diese Hügel schmiegen, tausende Schattierungen von grün. Das könnte auch Frankreich oder die Toskana sein, ist aber Polen. Man muss nur drauf kommen...

Es war meine erste große Motorradreise. Erst seit zwei Jahren hatte ich überhaupt ein nennenswertes Motorrad, eine ETZ 250. Zuerst sollte es nach Frankreich gehen, aber die weite Anreise und die zu erwartenden Kosten schreckten uns ab. Doch nachdem ich in einer Motorradzeitschrift einen Reisebericht über das südliche Polen gelesen hatte, fanden wir unser neues Reiseziel.
Nach schier endlosen Gewalt-Schraub-Aktionen am altersschwachen ES-Gespann eines unserer Mitreisenden starteten wir an einem schönen Julitag: vier Jungs auf ETS 250, ETZ 250, dem schon erwähnten Gespann und einer Aprilia RS 250(!). Jetzt kann mir niemand mehr etwas über die Eignung unterschiedlicher Motorräder für unterschiedliche Aufgaben erzählen: mit jedem Motorrad geht grundsätzlich alles.
Auf der Autobahn Leipzig-Dresden der erste Schock für mich: Der Motor meiner ETZ wollte plötzlich nicht mehr. Eine neue Kerze half ihm wieder auf die Sprünge und, soviel will ich vorwegnehmen, es war die einzige Panne für mich auf der ganzen Tour.
Wir überquerten die Grenze bei Görlitz und fuhren durch das alte Schlesien. Falls das etwa ein besonderes Gefühl hätte vermitteln sollen, altes deutsches Land und so weiter, so spürte ich nichts davon. Vielleicht alles zu lange her, jedenfalls für mich (Jahrgang 1974 und in der DDR aufgewachsen). Andere Eindrücke waren da schon habhafter: Dicht besiedelt Gegend, gute Straßen. Polnische Überlandstraßen sind deutlich breiter als etwa eine deutsche Bundesstraße und haben eine Art Standstreifen, der aber auch von langsameren Fahrzeugen befahren werden darf. Überholen ist also kein Problem, und das wird auch, scheinbar rücksichtslos, ausgenutzt. Doch jeder rechnet auch damit, dass der Andere ebenso fährt, und so passiert doch nichts. Es ist wie so oft: wenn der Mensch selbst entscheiden kann, dann reagiert er vernünftiger und rücksichtsvoller als bei kompletter Reglementierung, die nur zu Rechthaberei führt. Der Straßenverkehr in Polen und Deutschland ist ein schönes Beispiel für diese Theorie.

Riesengebirge bei Nacht
Na ja, nach diesem küchensoziologischen Diskurs zurück auf die Straße. Gegen Abend erreichten wir das Riesengebirge mit seinen wunderbaren kurvigen Straßen. Leider war es schon fast dunkel, und so hatten wir von der Aussicht nichts. Aber es war Motorradfahren wie es sein muss: schön geschwungene Straßen, viel Grün rundherum und kaum Autos. Und so ging es auch am nächsten Tag weiter.
Noch ein Beispiel, wie schnell manche Klischees sich in der Wirklichkeit auflösen. Polen ist chaotisch und unorganisiert? Blödsinn. Ein Beispiel: die Ausschilderung der Straßen. Sie ist einfach perfekt, nie wird der Fahrer alleingelassen, steht einmal der Name einer Stadt auf einem Schild, so kann man sicher sein, dass er auch auf dem nächsten Schild noch steht. In Deutschland ist das leider oft anders. Eine gute Ausschilderung brauchten wir dann, um das polnische Ruhrgebiet rund um Katowice, mit seiner Kohlegruben und rostigen Stahlwerken, zu umfahren. Das gelang uns ganz gut.
In Krakau kamen wir an einer Ampel mit einem polnischen Harley-Fahrer ins Gespräch. Glücklicherweise ist die Hilfsbereitschaft unter Motorradfahrern kein Klischee. Der Mann lotste uns zu einem schönen Zeltplatz am Stadtrand, und am Abend durch das Nachtleben dieser atemberaubenden Stadt. Inklusive Jazzkonzert und nächtlicher Stadtrundfahrt rund um den eindrucksvollen Burghügel Wawel, die Quelle des polnischen Nationalbewusstseins. Und da wir am nächsten Tag noch eine neue Batterie für das Gespann kaufen konnten und damit die allmorgendliche Plackerei des Anschiebens ein Ende hatte, war der Aufenthalt in Krakau rundherum erfreulich.
Außerhalb der großen Stadt sah das Land aus wie auf einer hundert Jahre alten Postkarte: Holzhäuser, staubige, schmale Straßen, Pferdefuhrwerke. Allerdings viel dichter besiedelt, als ich mir vorgestellt hatte. Irgendwo mitten im Wald fanden wir wieder einen Zeltplatz.
Noch ein Wort zur lokalen Fauna: Mit dem Geräusch eines mittleren Transporthubschraubers drehte ein ungefähr acht Zentimeter langer Käfer seine Runden über dem Zeltplatz. Die Hälfte seines Körpers bestand aus eindrucksvollen Mundwerkzeugen, und bei dem Gedanken, bei 90 km/h und Jethelm mit diesem Untier zu kollidieren, wurde mir mächtig flau in der Magengegend.

Die Beskiden oder das Ende der Welt
Der nächste Tag brachte die bislang schönste Tagestour. Die grünen Hügel der Beskiden im Dreiländereck zwischen Polen, der Slowakei und der Ukraine ein Augenschmaus, die Straßen leer und kurvenreich und das Wetter traumhaft. Die Maschinen liefen problemlos, ich bin mir sicher, die hatten auch ihren Spaß. Weiter im Norden lag Przemysl, der große Grenzübergang zur Ukraine. Das Ende der Welt. Weiter geht es nur mit Visum, und darüber war ich froh, auch wenn wir es nicht lassen konnten, nach einer Einreise zu fragen. Klappte aber gottseidank nicht.
Wir wandten uns also wieder nach Westen, und die Heimreise begann. Am Abend das gleiche Spiel wie oft zuvor: die Suche nach einem Schlafplatz. Campingplätze gibt es nur in touristisch erschlossenen Gebieten, Hotels sind ebenfalls selten und kamen auch irgendwie nicht in Frage. An vielen Nächten blieb dann nur, abseits der Straße zu kampieren. In dichtbesiedelten Gebieten ist das gar nicht so toll. Sicher spielte dabei auch die Angst vor Diebstählen eine Rolle, von der wir uns nie ganz freimachen konnten. An diesem Abend suchten wir fast bis Mitternacht nach einem unauffälligen Platz.
Immerhin kommt man nach einer solchen Nacht zeitig in die Puschen, ein großer Pluspunkt. Wir fuhren wieder Richtung Süden, in die Hohe Tatra. Die Landschaft sah aus wie ein Flickenteppich. Wald, Felder Wiesen und Dörfer wechselten sich alle paar hundert Meter ab, so dass wir mit dem Schauen kaum nachkamen. Wieder ein toller Motorradtag, mit alpinem Flair zwischen Nowy Sacz und Zakopane. Der bekannte Wintersportort ist auch im Sommer total überlaufen, aber nach mehreren Tagen Pampa war es schön, mal wieder unter Menschen zu kommen. Endlich fanden wir auch wieder einen Zeltplatz und konnten duschen und uns rasieren – zum ersten Mal nach fünf Tagen...

Hemmungslos wild: Motorradtreffen in Szklarska Poreba
Ein kleiner Abstecher nach Tschechien brachte preiswerte neue Reifen für das Gespann und die Erkenntnis, dass die tschechische Küche doch viel besser ist. In Polen gab es diesbezüglich, nun ja, nicht viel zu holen.
Bei einem Glaser ließen wir ein neues Spiegelglas für die ETS anfertigen. Ein Lehrbeispiel, wie eine Kleinreparatur auch in Deutschland vonstatten gehen sollte, würden wir in einer perfekten Welt leben. Der Glaser nahm also die Scherben des Originals, puzzelte sie auf einem neuen Stück Spiegelglas zusammen, malte die Kontur ab und fuhr sie mit dem Glasschneider nach. Dann zog er mit dem Werkzeug noch vier Linien radial nach außen und brach rundherum die überflüssigen Stücke weg. Noch die Kanten verschleifen – fertig. Eine Arbeit von fünf Minuten. Leider brachte ich es fertig, das neue Glas bei unserem dankenden Händegefuchtel runterzuschmeißen, aber nach weiteren fünf Minuten hatte der Mann grinsend ein neues gezaubert. Toll.
Die Fahrt nach Tschechien verbrachte ich übrigens als Beifahrer im Gespann. Was für ein geiles Gefühl! Dreißig Zentimeter über dem Boden, da kommt man sich schon bei 60 km/h mächtig schnell vor!
Zwei Tage später, wieder im Riesengebirge, wollten wir über Tschechien nach Hause fahren. Doch im letzten Dorf, einem Kuhkaff namens Szklarska Poreba, versperrte uns ein Motorradtreffen den Weg. Da konnten wir keinesfalls weiterfahren. Ein polnisches Bikertreffen! Also, ich war noch nicht auf vielen deutschen, aber die meisten waren Gartenparties dagegen.
Lauter Verrückte verheizten ihre Maschinen auf Straßen und Wiese, irgendein Typ fuhr den ganzen Abend mit einer 748 quer durch die Menschenmassen, ein paar dicke polnische Ladies (leider viel weniger hübsch als all die anderen Polinnen) zogen sich auf der Showbühne aus, und alles wurde mit Bier der Marke „EB“ gut durchgespült. Ein würdiger Schlusspunkt der Reise.
Viel mehr passierte auch nicht, wir rollten entspannt über das tschechische Liberec wieder nach Deutschland zurück, und das war’s.
Schön war’s.

Reiseroute:
Görlitz – Jelenia Gora – Walbrzych  Klodzko – Nysa – Raciborcz – Bielsko-Biala – Zywiec – Sucha Beskidza – Krakow – Dukla – Ustriczki Gorny – Lesko – Przemysl – Tarnow – Nowy Sacz – Zakopane – Zywiec – Nysa – Klodzko – Walbrzych – Kowary – Szklarska Poreba – Liberec – Zittau