06.11.2016

Es ist doch nur für eure Sicherheit

"Freies Überholen ist nicht mehr zeitgemäß" - so lautete das Fazit eines längeren Artikels, den ich vor einiger Zeit auf dieser kleinen Seite veröffentlichte und der sich mit der zukünftigen baulichen Gestaltung von Landstraßen befasste. Verkehrssicherheits-Experten sind nämlich der Meinung, dass man den Fahrern möglichst viele Entscheidungs- und damit Fehlermöglichkeiten abnehmen sollte, um die Unfallzahlen zu senken. Das gilt insbesondere für das Überholen: Es soll nach Möglichkeit nur noch dort erlaubt werden, wo durch entsprechende bauliche Gestaltung ein Kontakt mit dem Gegenverkehr unmöglich ist.
Das klingt erst einmal gut. Wer könnte schon gegen eine verbesserte Verkehrssicherheit sein? Und durch die heutige Verkehrsdichte, vor allem die allgegenwärtigen Lkw, ist ein freies Fahren vor allem unter der Woche doch ohnehin längst Illusion geworden. Ich konnte das neulich sehr schön auf einer längeren Dienstreise mit dem Auto beobachten: von Friedrichshafen nach Kempten auf der B31/B12. Auf diesen fast 90 Kilometern fuhr ich praktisch komplett mit 70 km/h hinter 40-Tonnern. Überholen konnte ich genau zwei Mal, und auch nur, weil ich einen gut motorisierten Mietwagen hatte. Aus Gründen, die ich nicht kenne, sind diese beiden vielbefahrenen Bundesstraßen nur zweistreifig ausgebaut. Standstreifen gibt es ebenso wenig wie sichere Überholmöglichkeiten.

Todesstrecke am Bodensee-Ufer
Besonders die B31 zwischen Friedrichshafen und Lindau ist eine wahre Todesstrecke - im besten Fall nur für die Nerven. Im Bodensee-Raum trifft eine dichte Besiedelung auf eine starke Industrie mit entsprechendem Lieferverkehr und auf Touristenströme. Hier müsste es unbedingt eine Autobahn geben - gibt es aber nicht. Und so quält sich der Verkehr über eine Straße mit der Kapazität einer Ortsverbindung im hinteren Vorpommern.
Das Problem: Überholen ist an vielen Stellen erlaubt, faktisch aber unmöglich, und zwar durch die hohe Verkehrsdichte ebenso wie durch die Straßenführung mit vielen langgezogenen Kurven. Natürlich überholen viele Fahrer trotzdem - ich will mich da nicht ausnehmen - was immer wieder zu gefährlichen Situationen und Unfällen führt. 60 fahren zu müssen, wenn man 100 dürfte - das macht viele Leute aggressiv. Wer das nicht einsieht, der hat keine Ahnung von der menschlichen Natur. Trotzdem sind natürlich immer die pöhsen Raser schuld, wenn es an solchen Stellen knallt.

Mehr Sicherheit, aber auch mehr Stress
Als ich endlich in Kempten angekommen war, freute ich mich auf die Weiterfahrt Richtung München. Denn von früheren Ausflügen wusste ich, dass die B12 dort extrem breite Fahrstreifen hat, sodass man auch bei Gegenverkehr gefahrlos überholen kann, wenn der Vordermann mitspielt und sich rechts hält. Umso großer war mein Schreck, als ich sah, dass die Bundeststraße bereits nach dem neuen, sicheren Überholkonzept ausgebaut worden war:
Die extrabreiten Fahrstreifen waren abgelöst durch abwechselnd ein- und zweistreifige Bereiche. Natürlich kann man so auch überholen, aber das Fahren ist viel stressiger: Dahinschleichen mit 60 km/h wechselte sich ab mit Vollgas, um möglichst viele Lkw zu überholen. Und am Ende der Überholstrecke wird es dann immer eng und starke Bremsmanöver sind unumgänglich. Der Verkehrsfluss ist viel ungleichförmiger als auf der alten Straße.
"Irgendwas ist ja immer", höre ich euch jetzt denken. "Kann er nicht überholen, nervt es ihn - kann er überholen, nervt es ihn auch." Nein: Was mich wirklich stört, ist die Aussicht, dass die freie Fahrt am Vordermann vorbei künftig nur noch dort erlaubt ist, wo die Straße aussieht wie auf dem Bild rechts. Und wo solch sicherer Überholraum nicht gegeben ist, wird es verboten. Dann bleibt nur zu hoffen, dass das autonome Fahren schnell auch auf Landstraßen möglich sein wird. Dann kann man wenigsten während der Fahrt lesen - etwas anderes gibt es ja nicht mehr zu tun.

P. S. Ich habe keine Zahlen, aber "gefühlt" bin ich sehr sicher, dass der Lkw-Verkehr abseits der Bundesstraßen deutlich zugenommen hat. Im Jahr 2012 schrieb ich über Wurmlöcher durch Deutschland - kleine Landstraßen, auf denen auch unter der Woche praktisch kein Verkehr herrscht. Heute kommen mir selbst auf schmalsten Pisten bulgarische oder rumänische Lkw entgegen, die über Berg und Tal ihrem Ziel entgegenrumpeln. Wahrscheinlich gibt es viele Aufträge, bei denen es egal ist, wie lange es dauert - Hauptsache billig. Und dann spart man eben die Autobahnmaut und fährt einen Tag länger. Ist schon klar, dass mein Anliegen "Fahrspaß auf Landstraßen" im wirtschaftlichen und politischen Maßstab vollkommen irrelevant ist - aber die Hoffnung, dass irgendwann einmal auf Verbindungen unterhalb der Bundesstraßenebene nur noch Ziel- und Quellverkehr erlaubt sein wird, die gebe ich nicht auf. Man wird ja noch träumen dürfen.