August 1999, in der Nähe von Bolgrad/Ukraine: Hilflose Wut schüttelt mich. Ich möchte diese selbstgerechten, korrupten, grinsenden Grenzbeamten in ihren schäbigen Bürocontainern am liebsten erschießen. Ich stehe mitten im Gewühl auf der ukrainischen Seite des Grenzüberganges. Es ist dunkel.
Es waren wieder sehr viele Container.
Zwölf Stunden vorher. In der ersten Morgendämmerung verlassen wir unser Nachtlager auf einem Feld unweit von Braila in Rumänien. Unser Weg führt nach Galati,von wo aus wir in die Ukraine einreisen wollen. Und Galati gibt sich die redlichste Mühe, uns den Abschied aus Rumänien zu erleichtern. Krach! Der metallische Laut, den die Telegabel bei jedem Durchschlagen von sich gibt, fährt mir durch Mark und Bein. He, eigentlich soll mich die ETZ noch ein paar tausend Kilometer tragen! Erst die Krim sehen und dann sterben! Dann bleibt auch noch das Vorderrad in einer Staßenbahnschiene hängen. Kurzer Kampf mit der Schwerkraft um die vollbeladene Maschine - gerade noch mal gutgegangen. Eine sehr schmale, kaum befahrene Straße führt aus der Stadt heraus zum Grenzübergang.
Hier die gesamte Reise als Fotoroman.
Dieser ist ein neuralgischer Punkt unserer Reise, denn er ermöglicht es uns (theoretisch), am Schwarzen Meer entlang und über Odessa auf die Krim zu fahren, ohne Moldawien zu kreuzen. Schon das Visum für die Ukraine war teuer genug. Und deshalb hatten wir auch in Deutschland noch bei ADAC und rumänischer Botschaft nachgefragt, ob der Grenzübergang tatsächlich offen ist. Dies wurde uns bestätigt.
Doch warum ist die Straße so leer? Der einzige Zugang von Rumänien in die Ukraine südlich von Moldawien, und keiner benutzt ihn? Doch wir beruhigen uns: was sollen die beiden Länder denn austauschen? Haben doch beide nichts. Wir rollen weiter und erreichen den Grenzübergang. Sehr wohl ist mir nicht, zum ersten Mal sind wir Grenzbeamten im entlegensten Winkel ihres Landes ausgeliefert, sicher sind sie frustriert und schlecht bezahlt. Außerdem ist es glühend heiß. Ich streife mühsam die durchschwitzten Handschuhe ab und nestle meinen Paß aus der Innentasche. Verdammt. Zum wiederholten Mal fluche ich über die mühevolle Prozedur. Ständig kollidiert die Dokumentenhülle mit dem Portemonnaie, ich habe aber auch keine Lust, beides getrennt zu verwahren. Oder wäre das doch besser, schon bei einem eventuellen Überfall? Egal. Ich versuche, an nichts zu denken und gleichmütig den Fortgang der Grenzabfertigung abzuwarten. Der läßt auf sich warten. Ralf und Alex diskutieren mit dem Beamten, steigen ab, breiten die Landkarte aus. Ich geselle mich dazu, der Grenzer radebrecht englisch.
Was er sagte, war ungefähr folgendes: Der Grenzübergang ist zwar geöffnet, die Straße führt aber nicht in die Ukraine, sondern nach Moldawien. Und dort dürfen wir nicht einreisen, weil es am „anderen Ende“ des Grenzüberganges keinen Konsul gibt, der das zur Durchfahrt notwendige Visum ausstellen könnte. Einen solchen könnten wir erst in Cahul finden, ca. sechzig Kilometer nördlich.
Ich bin fassungslos. Die erste richtige Pleite auf der Reise. Wir müssen also doch durch Moldawien, wir müssen uns um die Einreise- und Durchfahrterlaubnis kümmern, wir müssen nochmal durch Galati. Krach! Scheiße.
Der Grenzübergang in Cahul ist eine ehemalige Tankstelle. Die Abfertigung läuft recht schleppend, und es ist noch heißer geworden. Wir investieren die letzten Lei in Kleinkram und kalte Fanta. Ich versuche wie stets, irgendwelche landesspezifischen Leckereien zu erstehen. Es gibt natürlich auch Mars und Snickers, doch warum sollte ich hier genauso einkaufen wie in Deutschland? Ich kaufe also ein weiches Hörnchen mit Schokoladenfüllung und stopfe es in den Mund, ungeachtet der Proteste meines Magens, der im Moment gar keinen Bedarf nach Nahrungsaufnahme hat. Lecker.
Der Grenzer gibt uns die Pässe wieder, stilles Aufatmen, und es geht weiter. Ich schaue mich noch einmal um. Würde uns das unermeßliche Rußland verschlucken wie Afrika Livingstone? Na ja, war wohl keine wirkliche Parallele, ich lächle kurz bis mir einfällt, daß ich einen Jethelm trage und jeder mein breites Grinsen sehen kann. Gottseidank ist die Straße leer bis auf uns.
Gegen halb zwölf erreichen wir die Einreisekontrolle nach Moldawien. Ein paar Grenzbeamte sitzen an einem Tisch im Schatten der bröckeligen Überdachung. Jeder trägt eine andere Uniform. Sie begrüßen uns freundlich und fragen uns aus. Otkuda? Gtje? Studenti? Jedem, der es hören will oder auch nicht, versuchen wir klar zu machen, daß wir als Studenten natürlich bettelarm seien, unsere Motorräder uralt und kurz vor dem Zusammenbruch und daß wir noch eine sehr weite Reise vor uns hätten. Man lacht. Wir finden heraus, daß uns das Visum für die Durchfahrt durch dieses lächerliche Land immense dreiundzwanzig Dollar kosten wird! Die Strecke ist vielleicht sechzig Kilometer lang! Da müßte eigentlich das Taxi im Preis inbegriffen sein...
Als Ralf nachfragt, ob man beim Preis nicht noch etwas machen könnte, schließlich seien wir ja Studenten und hätten noch eine lange Reise vor uns usw., reagiert die Staatsmacht entrüstet. Dies hier ist eine seriöse Grenze, kein Markt!
Der Konsul allerdings, um den es uns geht, ist zum Mittagessen. Hat wohl nicht damit gerechnet, heute noch eine deutsche Touristengruppe abfertigen zu müssen, der Gute. Wir machen es uns also im spärlichen Schatten bequem und warten.
Als der Konsul kommt, nimmt ein wahrer Be-Hürdenlauf seinen Anfang. Wir bekommen Laufzettel der Sowjetischen Grenzpolizei und fühlen uns alsbald wie Asterix und Obelix im Haus, das Verrückte macht. Wir tappen von einem Bürocontainer zum nächsten, bekommen überall Stempel und Unterschriften. Sicherlich alle extrem wichtig! All unsere Daten werden in dicke Bücher eingetragen, die ganz bestimmt jeden Abend dem Nationalen Sicherheitsrat zur Gegenzeichnung vorgelegt werden, damit auch ja kein Verbrecher unerkannt ins schöne Moldawien einreisen kann. Und natürlich bleibt es nicht bei den dreiundzwanzig Dollar, wir müssen auch noch drei Bucks für irgendeine obskure Versicherung hinlegen, aber was solls - wir haben die Bürokratie überstanden und können ins große Abenteuer aufbrechen, oder?
Denkste.
Nach dem Grenzübergang kommt der eigentliche Grenzübergang, oder wars umgekehrt? Jedenfalls will ein weiterer Containermann schlankweg fünf DM Ökosteuer, da scheint Moldawien schon viel weiter zu sein als Deutschland, wird an Unverfrorenheit aber weit in den Schatten gestellt vom letzten Posten. Da sitzen zwei junge Uniformierte und ein älterer Zivilist, der deutsch spricht. Er sagt: „Fünf DM“. Die sowohl im besten russisch (potschemu?) als auch auf deutsch gestellte Gegenfrage beantwortete er mit: „Nada“. Irgendwie glaube ich nicht, daß das „eine behördlich vorgeschriebene Gebühr für die Bearbeitung Ihres Einreisegesuches“ bedeutet. Wir kochen in jeder Hinsicht.
Nach nur gut einer Stunde inklusive einer Stadtdurchfahrt (Krach!) haben wir das Land schon hinter uns. Leider nicht den Grenzübergang. Ralf kämpft wie ein Löwe gegen die Krakenarme der Abzocker, trotzdem zahlen wir schicksalsergeben in diversen Containern jeweils fünf, drei und zwei Dollar. Merkwürdigerweise scheint niemand an Landeswährung interessiert zu sein. Und das Lächerlichste: der Zwei-Dollar-Mann hat nicht mal einen Kugelschreiber, um die Unterschrift, für die er die genannte Summe einstreichen will, zu leisten. Aber man hilft ja gerne.
Weiter geht es Richtung Osten. Der Eingang zur Ukraine - ein Schlagbaum. Auch diese Posten sind freundlich, schwatzen, tauschen Zigaretten - und wollen fünfzig DM (für die ganze Gruppe), um uns hereinzulassen. In den Containern lassen wir zusätzlich fünf Dollar, fünf Dollar, zehn Griwna, 30 Griwna.
Hilflose Wut schüttelt mich.
Ich brüte vor mich hin, Zeit habe ich genug. Ich weiß, daß nicht nur die kleinen Soldaten an der Grenze korrupt sind, sondern das ganze System. Ich weiß auch, daß die paar Dollars, D-Mark und Griwnas, die ich heute an Gebühren und Bakschisch gegeben habe, für mich nicht sehr viel Geld sind, für eine ukrainische oder moldawische Familie dagegen schon. Und trotzdem ist die Hilflosigkeit, die ich gegenüber diesen Abzockern empfinde, eine schlimme Erfahrung. Schließlich hätten sie statt der fünf ja auch fünfzig Dollar verlangen können. Oder fünfhundert. Was hätte ich getan? Wäre ich zurückgefahren, all die 2400 Kilometer?
Still fahren wir weiter, suchen uns schnell ein Nachtlager. Die Gedanken kreisen um die Weiterfahrt. Wird uns jeder Dorfpolizist so ausnehmen? Werden wir an jeder Polizeikontrolle die obligatorischen fünf Dollar zahlen müssen? „Oli, gib mal bitte den Käse rüber“ - „Five Dollars“. Unser Humor ist bitter geworden.
Der Zweifler in mir springt vor Schadenfreude im Viereck. „Ich hab’s doch gesagt, von Anfang an!“
Tag 1...4
Am 10. August hatten wir Deutschland verlassen. Tschechien, Slowakei, Ungarn - die Länder sind so klein, daß wir mit dem Geldwechseln kaum nachkommen. Ansonsten unterscheiden sie sich nicht nennenswert von Ostdeutschland - dieselbe Mischung aus schönen alten und langweiligen neuen Gebäuden, dieselbe Landschaft, dieselben Gewerbegebiete, sogar dasselbe Wetter.
Wir fuhren einfach durch. Niemand behelligte uns, nur der Pannenteufel stattete Johannes seinen Antrittsbesuch an (dabei war die Kette doch neu!).
Der Urlaub, so wie ich ihn mir vorgestellt hatte, begann eigentlich erst an der Grenze zu Rumänien.
In strömendem Regen reihten wir uns in eine lange Autoschlange ein. Die Häuschen der Grenzbeamten waren gleichzeitig Bankschalter, an denen man Geld tauschen und das Durchreisevisum bezahlen konnte. Schon etwas seltsam, wenn man die Einreisegenehmigung in ein ziemlich großes Land von einem ehemaligen Tennismanager (bzw. dessen Privatbank) erhält...
Außerdem hätte er sein Geld besser in den Straßenbau investieren sollen, denn die Straßen in der Grenzstadt Oradea waren von abgrundtiefer Gemeinheit. Nicht etwa so offensichtlich schlecht, daß man von vornherein langsam gefahren wäre. Nein, sie waren schon gut asphaltiert, nur hatte man versäumt, den Boden vorher glattzuwalzen. Die Mischung aus spiegelglattem, nassen Asphalt und tiefen Schlaglöchern in einer unbekannten Stadt mit wenig rücksichtsvollen Autofahrern machte die Fahrt zur Tortur. Ich atmete auf, als wir Oradea hinter uns gelassen hatten.
Außerhalb der Stadt fuhr es sich wesentlich besser, mit neuem Elan nahmen wir Richtung auf Cluj-Napoca und Sibiu. Die Landschaft wurde gebirgig, im Vergleich zu Ungarn, das flach wie ein Teller ist, geradezu hochalpin. Wir fuhren stundenlang bergauf, inmitten der Lkw-Kolonnen einer vielbefahrenen Transitstrecke, während es langsam dunkel wurde und immer stärker regnete. Offensichtlich tat es das auch schon seit langem, wie die zahlreichen Erdrutsche neben der Straße zeigten. Manchmal glaubte ich, unter Wasser zu fahren - das Visier naß und beschlagen, Dunkelheit und Nebel, unmarkierte Straßen. Und zu allem Überfluß hatten wir große Schwierigkeiten, einen Schlafplatz zu finden. Der letzte Zeltplatz lag schon Stunden hinter uns, und rechts und links der Straße wechselten sich Trucker-Rastplätze, Imbißbuden, Märkte und heruntergekommene Hotels ab. Endlich fanden wir einen Feldweg, der von der Straße weg und in Richtung des Waldes führte. Wir quälten die Motorräder den matschigen Pfad herauf - war da nicht eine Lichtung? Endlich. Die Regenklamotten zogen wir gar nicht erst aus, der Regen war mittlerweile zu einem kleinen Wolkenbruch geworden. Tolpatschig wie gerade erst gelandete Außerirdische stolperten wir auf dem glitschigen Gras herum und bauten unsere Zelte auf. Doch auch, als das geschafft war und wir uns unter Ralfs großer Regenplane versammelten, kam keine rechte Stimmung auf. Der Bach, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Lager bislang unauffällig den Berg heruntergewunden hatte, war während der Plackerei gefährlich angeschwollen. Wie es aussah, hatten sich alle Elemente gegen uns verschworen. Oder Rumänien mochte uns nicht und wollte uns wieder ausspucken. Und waren nicht erst vor kurzem in der Schweiz ein paar Dutzend Urlauber von einem plötzlich anschwellenden Gebirgsbach mitgerissen und getötet worden? Mist. Mit knirschenden Zähnen packten wir die triefenden Zelte wieder ein und wuchteten die Maschinen zurück zur Straße. Ich war so fertig, daß ich mich nicht einmal mehr ärgern konnte - aber das hätte mir ja auch nichts genützt. Also fuhren wir weiter. Und weiter. Irgendwann konnten wir uns dann auf ein Hotel einigen und checkten in einer originalen Ostblock-Urlauber-Zwingburg ein, die aussah, als hätten Dracula und Ceaucescu sie bei einem Becher Blutwein auf Menschenhaut gemalt. Ich war begeistert. Wir schienen die einzigen Gäste zu sein, verscheuchten die Fledermäuse und machten es uns in der riesigen Lobby bequem, auch weil die in den winzigen Zimmern zum Trocknen ausgebreiteten Ausrüstungsgegenstände uns dort keinen Platz mehr ließen.
Als ich am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein erwachte, untersuchte ich zuerst meinen Hals und meine Habe, ob sich vielleicht Vampire an Blut oder, dem Zug der Zeit folgend, am Geld gütlich getan hätten. Fehlanzeige - alles noch da.
Tag 5...6
Wir starteten spät und rollten über gute Straßen durchs weite Land. Grüne Hügel schwangen sich von Horizont zu Horizont, durchsetzt von Wäldern, Kuhweiden, kleinen verschlafenen Dörfern - ich genoß das Land in vollen Zügen. Endlich war es so, wie ich es erhofft hatte. Auffällig war aber der im Vergleich zu den westlich anmutenden Ländern Ungarn oder Tschechien viel geringere Wohlstand. Oder besser gesagt: das größere Wohlstandsgefälle. Besonders in den Städten, die bei weitem nicht so heiter und freundlich wirkten wie die Landschaft, beobachteten wir viel Armut neben den protzigen Autohändlern und Supermärkten. Aufgrund unseres Aufzuges wurden wir natürlich überall sofort als Touristen erkannt (und wo anders sollen Touristen schon herkommen als aus dem reichen Westen), und dunkelhäutige, buntgekleidete Mütter halten uns rotznäsige Kinder entgegen und erflehten Almosen. Der McDonalds in Brasov (ich gebe zu: wir waren drin) wurde von martialisch dreinblickenden Sheriffs vor drohender Verwahrlosung „geschützt“.
Doch zurück auf die Straßen. Als Tagesziel hatte Ralf den Bergsee Lac Balea ausgegeben, mit der etwas diffusen Begründung, daß es dort sehr schön sein solle. Na ja. Den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung konnten wir zunächst nicht ergründen, da es bereits dunkel geworden war. Zähneklappernd in der Kälte der Gebirgsnacht kämpften wir uns im ersten bis zweiten Gang die steile, serpentinenreiche Straße hinan; den schwerbeladenen Gespannen machte die dünne Luft merklich Schwierigkeiten. Oben angekommen, beherrschte ein Wort meine Gedanken: KALT! Kaum vom Motorrad abgestiegen, zog ich alle Sachen an, die ich besaß, und schloß meine zitternden Finger um einen Becher heißen Tee. Der Gedanke an den Sonnenaufgang erwärmte mich ein wenig, als ich mich in meinen Schlafsack wickelte.
Gegen fünf Uhr erwachte ich, gar nicht mal zu durchgefroren. Im ersten Dämmerlicht sah ich mich um. Wir befanden uns auf einem Plateau in 2034 Metern Höhe, wie ein verrostetes Blechschild verkündete. Um uns erhoben sich beeindruckende Bergmassive, sicherlich 2500 Meter hoch. Der See befand sich hinter einem kleinen Hügel, gleich daneben rottete die Ruine eines Hotels vor sich hin. Schönheit und Verfall auf engstem Raum, dies war mir in Rumänien schon viele Male aufgefallen. Ich blickte hinab in das Tal, das wir am Tag zuvor hinaufgefahren waren. Schier endlos schlängelten sich die Serpentinen hinab - tolle Aussichten für die Fahrt! Ich setzte mich und wartete, bis die ersten Sonnenstrahlen über den Berghang lugten; es war unbeschreiblich: schon dieser Moment war die anstrengende Fahrt hier hoch wert.
Nach und nach erblickten auch meine Reisegefährten das Licht des neuen Tages. Lange brauchten wir, um uns an den Schönheiten der Bergwelt sattzusehen.
Bei der Abfahrt ins Tal konnten wir 23 km lang auf Motorhilfe verzichten. Anbremsen, abwinkeln, Kurve links, langsam auf Tempo kommen, wieder abbremsen, Kurve rechts, und wieder von vorn. Traumhaft. Nur ärgerte ich mich fast jedes Mal, daß die Kurve doch noch etwas schneller, etwas schräger hätte gehen können...
Der Rest des Tages führte uns durch dunkle Wälder und abgeschiedene Dörfer. Wir fuhren kaum schneller als 30 bis 40 km/h und hatten viel Zeit zum Schauen. Weiterhin gefielen uns die Dörfer viel besser als die arg heruntergekommenen Städte. Die kleinen Bauernhäuser waren bunt bemalt und mit viel Holzschnitzerei verziert, die Menschen arbeiteten auf den Feldern. Die Industrie, die den Einwohnern der Städte Lohn und Brot geben könnte, liegt darnieder, doch die Landwirtschaft funktioniert - gegessen wird immer. Und so haben immerhin die Bauern ihr Auskommen.
Unser Nachtlager schlugen wir an einem kleinen See auf, der nicht mehr weit von der Grenzstadt Galati entfernt, jedoch etwas abseits der nächsten Ortschaft lag - jedenfalls auf der Karte. Die Wirklichkeit machte den Erwartungen wie so oft einen Strich durch die Rechnung. Wir fuhren durch ein Dorf, dessen ganze Einwohnerschaft sich auf den Straßen versammelt zu haben schien, nur um uns zu sehen. Ein landender Airbus hätte nicht mehr Aufsehen erregt. Und der See? Nun, an seinem gegenüberliegendem Ufer lag ein riesiges, rostiges Chemiewerk, und das Wasser schillerte in allen Farben des Regenbogens. Offenbar schienen die Giftstoffe jedoch keinen negativen Einfluß auf die Größe der Mückenpopulation zu haben - im Gegenteil. Wahre Geschwader beißwütiger Angreifer stürzten sich auf uns, sobald wir Helme und Handschuhe abgelegt hatten. Nur keinen Fetzen Haut zuviel entblößen!
Am nächsten Morgen erwachten wir ziemlich verschwollen. Schnell sattelten wir die Pferde und saßen auf. Heute würden wir die Ukraine sehen...
Tag 8
Müde und zerschlagen erheben wir uns von unserem kargen Nachtlager unweit der Hauptstraße. Der vergangene Tag mit seinen Grenzübergängen steckt allen noch in den Knochen. Würde es so weitergehen?
Wir fahren in die erste Stadt nach der Grenze, Bolgrad. Einstöckige Häuser, bröckeliger Putz. Die Hauptstraße ist sehr breit und mit Bäumen gesäumt, deren Schatten die flirrende Hitze etwas erträglicher macht. Jeder Schritt durch die Stadt ist ein angenehmer Kulturschock. Die Autos! Jeder Parkplatz ein Panoptikum russischer Automobilgeschichte. Lada, Wolga, Saporoshez - in meiner Kindheit vertrauter Anblick, sind sie heute aus dem heimatlichen Straßenbild verschwunden. Hier beherrschen sie es. „He Oli (der teilt meine Leidenschaft), hast du gesehen? Ein M21!“ - „Klar, und dort ein 965er Sapo!“
Das Einkaufen. Für den supermarktgeschädigten Mitteleuropäer eine Erfahrung der besonderen Art. Wir schlendern über den riesigen Marktplatz, auf dem man vom Schnürsenkel bis zum Traktormotor alles kaufen kann. Im Zentrum steht eine alte Markthalle, die den Lebensmittelhändlern vorbehalten ist. Wie in den Erzählungen meiner Großmutter sieht es hier aus. In einem Raum, der komplett gefliest wie ein Schwimmbad aussieht, gibt es Fleisch. Aber keine Kühlaggregate. Im nächsten Abteil Mehl, Zucker, Nudeln in Säcken, Bonbons in großen Gläsern, Kekse im Karton. Soviel man braucht, soviel wird abgewogen, kein Verpackungswahn. Zusammengerechnet wird mit dem Abakus, dessen bunte Kugeln unter den Händen der Marktfrauen nur so schwirren. Schneller als jede Computerkasse. Wir kaufen Brot, Wurst, Käse, Fischkonserven, frische Weintrauben, Melonen, heiße Pastetchen mit Sauerkraut, Limonade mit Kremtortengeschmack und einen Motorradreifen.
Danach brechen wir auf ins Unbekannte.
Erster Eindruck: die Ukraine ist noch einmal viel größer und dünner besiedelt als Rumänien.
Stundenlang rollen wir durch die Grassteppe, alle paar Minuten kommt mal ein Auto vorbei. Auch dieses Fahren ist ein ganz neues Erlebnis. Stundenlang mit sechzig, siebzig km/h, diese Geschwindigkeit zwangen uns die schweren Gespanne auf, durch eine ewig gleichbleibende, spannungslose Landschaft zu rollen, das kehrt die Aufmerksamkeit zwangsläufig nach innen. Man hat schlicht nichts zu tun, deshalb achtet man mit geradezu pathologischer Aufmerksamkeit auf jedes Geräusch, das Motor und Getriebe von sich geben. Dazu kommt, daß ich die ETZ praktisch noch nie zuvor über einen längeren Zeitraum mit Viertelgas und 3000 Umdrehungen betrieben habe! Schon hört man Dinge, die vielleicht ganz normal sind, aber sonst im Vollgaslärm untergehen. Zu Hause zählt bei einundzwanzig PS halt nur Vollgas...
An jedem Halt tratschen wir über baldige Motorschäden wie alte Waschweiber über ihre Zipperlein.
Nach dem langen Ritt durch die grüne Steppe begrüße ich das Schwarze Meer mit einem wahren Jubelschrei. Ein ungeheures Gefühl der Erleichterung packt mich: wir sind da! Wenn auch noch nicht auf der Krim, so doch wenigstens am Meer. Nach den tristen Dörfern und Provinzkäffern, die wir (wenn überhaupt) ab Bolgrad gesehen hatten, ist der Badeort Satoka eine wahre Erholung für die Augen. Wie im Rausch fahre ich durch das bunte, lebensfrohe, dicht bevölkerte Städtchen. Was mich besonders freut, ist die vage Aussicht auf einen richtigen Zeltplatz nach drei Tagen wildem Camping in der Pampa. Duschen, rasieren und vielleicht am Abend im Meer baden - das wäre fast wie im Urlaub...
Die Küste entlang fahren wir weiter nach Odessa. Das stahlblaue Meer und der wolkenlose Himmel geben der Landschaft ein heiteres Antlitz, eine richtige Postkartenidylle. Am späten Nachmittag erreichen wir Odessa, die berühmte und (früher einmal) märchenhaft reiche Hafenstadt. Panzerkreuzer Potemkin, die riesige Hafentreppe, Eisenstein - und wirklich und wahrhaftig der Hinweis auf eine Campingplatz auf einem Schild! Die Suche danach gibt uns die Gelegenheit zu einer ausführlichen Stadtrundfahrt. Ich weiß, daß die Stadt erst Ende des 18. Jahrhunderts gegründet wurde, nachdem die Russen die Türken von der nördlichen Schwarzmerküste verjagt hatten. Als Kind hatte ich mit glühender Begeisterung von den Seeschlachten gelesen, die der legendäre russische Admiral Uschakow gegen die Osmanen geschlagen hatte, und jetzt stehe ich hier am Schauplatz dieser Geschichten! Der Freihafen machte die Stadt schnell reich, und in den nur rund hundert Jahren zwischen ihrer Gründung und dem Ersten Weltkrieg bildete sich ein beeindruckendes Stadtbild aus breiten, baumgesäumten Boulevards und prachtvollen Bürgerhäusern heraus. Nach siebzig Jahren Sowjetunion strahlen die Paläste einen morbiden Charme aus, wie ihn nur würdevoller Verfall hervorbringt.
Nach längerer Suche gelangen wir schließlich auf den ausgeschilderten Zeltplatz. Er liegt nur wenige Schritte vom Meer entfernt, was wir nach dem Zeltbau zu einem ersten Bad nutzen. Es ist ziemlich stürmisch, die Wellen fast zwei Meter hoch. Prustend paddeln und plantschen wir im warmen Wasser herum. Die Kruste aus Schweiß und Staub, die unsere Körper umgibt, löst sich langsam auf. Einfach himmlisch!
Zurück auf dem Zeltplatz unterhalten wir uns mit unseren Nachbarn, einem holländischen Pärchen, das mit einem Wohnmobil unterwegs ist. Ihre erste Frage ist, ob wir Probleme mit der Polizei gehabt hätten. Sie wären nämlich bei jeder Kontrolle wegen Kleinigkeiten abkassiert worden. Wir verneinen - abgesehen von einer Geschwindigkeitsübertretung, die uns siebzehn Griwna gekostet hatte (und da waren wir auch wirklich zu schnell), hatte uns die Polizei im Inland bisher in Ruhe gelassen. Wahrscheinlich weckt unser Aufzug und unsere alten Motorräder in den Gesetzeshütern eher Mitleid als Habgier.
Nach einem Gläschen Wein krieche ich müde ins Zelt.
Am nächsten Morgen richte ich in meinem Zelt ein Blutbad unter den Mücken an, die mich in der Nacht gepeinigt hatten. Das hebt meine Laune aber nur solange, bis ich mein verschwollenes Gesicht zu rasieren versuche. Aua.
Tag 9...10
Nach einem langen Spaziergang durch Odessa inklusive eines unappetitlichen Erlebnisses mit einem betrunkenen Parkplatzwächter brechen wir auf. Die Strecke des Tages soll uns über Nikolajew und Cherson so weit wie möglich in Richtung Krim führen. Unterwegs passiert nicht allzuviel, die genannten Städte können es an Schönheit nicht im geringsten mit Odessa aufnehmen. Doch verstehen wir jetzt, was die beiden Holländer mit „Polizei“ meinten. Auf den wichtigen Fernstraßen ist ihre Präsenz schier erdrückend. Alle paar Kilometer gibt es Straßensperren, die teilweise sogar von Schützenpanzern bewacht werden. Wir werden jedesmal angehalten, können aber nach der obligatorischen Ausweiskontrolle weiterfahren. Mit der Zeit kommt es uns vor, als hätte man uns an der jeweiligen Station schon erwartet. Sicher ist die Nachricht, da wären fünf Motorradfahrer aus Deutschland unterwegs, schon in der gesamten Südukraine verbreitet worden. So unter Kontrolle zu stehen ist kein sehr angenehmes Gefühl, aber da man freundlich mit uns umgeht, fahren wir weiter auf der „vorgegeben“ Strecke. Man will ja niemanden enttäuschen. Nahe der Stadt Armjansk beziehen wir unser letztes Nachtlager vor der Krim.
Nur noch wenige Kilometer und...
Hallelujah! Die Landenge von Perekop liegt hinter uns, wir sind auf der Krim. Meine Freude ist aber nicht ganz so groß wie beim Erreichen des Schwarzen Meeres zwei Tage vorher. Vielleicht weil die Landschaft sich von der des ukrainischen Festlandes kaum unterscheidet. Dieselbe Steppe, noch nicht einmal wildromantisch unberührt, sondern durchsetzt mit Hochspannungsmasten und verrosteten Traktoren. Außerdem ist es unmenschlich heiß. Nicht einmal der Fahrtwind vermag zu kühlen, obwohl ich nur im T-Shirt fahre.
Kurz vor Jewpatorija werden wir erneut von der Polizei angehalten, martialisch uniformierte junge Burschen mit kurzrasierten Haaren präsentieren uns ihre Kalaschnikows. Und doch scheinen die Polizisten im Inland einer friedlicheren Spezies anzugehören als ihre Kollegen an der Grenze, denn nach dem gutgemeinten und kostenlosen Rat, immer schön hintereinander zu fahren, lassen sie uns laufen. Die Stadt Jewpatorija selbst hat nicht viel mehr zu bieten als einen Strand, an dem bereits viele Zelte stehen. Natürlich gesellen wir uns dazu und verbringen eine angenehme Nacht am Meer, nur gestört von den unvermeidlichen Mücken. Es ist ein Teufelskreis: im Schlafsack kommt man um vor Hitze, ohne aber fressen einen die verdammten Mücken auf. Das nächste Mal nehme ich ein Moskitonetz mit!
Tag 11
Am neuen Tag rollen wir geruhsam weiter durch das glühende Land, Richtung Sewastopol. An den Straßen stehen Bauern, die die Produkte des Landes verkaufen, wunderbares frisches Obst, Kwas, Honig. Bei einem älteren Mann, der Honig verkauft, halten wir an. Er hat den goldenen Nektar auf einem Stühlchen deponiert, abgefüllt in einer 1,5-Liter-Flasche sowie einem mindestens 3 Liter fassendem Glas. Sonst nichts. Wer kauft 3 Liter Honig auf einmal? Wir nehmen immerhin die Flasche und lassen uns von ihm fotografieren - schließlich sind wir ja Touristen.
Das nächste Etappenziel entstammt dem Reiseführer. Die Stadt Bachtschissarai, an den Ausläufern des Küstengebirges gelegen, war die Hauptstadt des Khanats der Krimtataren, über das zweihundert Jahre russischer Herrschaft den Mantel der Geschichte gedeckt haben. Stalin ließ die letzten Reste des einstmals gefürchteten Reitervolks deportieren und wollte auch sein kulturelles Erbe auslöschen. Doch wie das sprichwörtliche Gallierdorf schaffte es auch Bachtschissarai, dem Tyrannen zu trotzen, allerdings nicht durch einen Zaubertrank, sondern durch Poesie. Denn der Ruhm des Gedichtes „Die Tränen von Bachtschissarai“ von Puschkin, das einen Brunnen im Khanspalast beschreibt, war so groß, daß nicht einmal der Rote Zar es wagte, die Stadt anzutasten. Und so fanden wir sie auch vor - wie von der Zeit unberührt.
Wir parken unsere Maschinen auf einem Parkplatz unweit des Palastes. Die Hitze ist kaum auszuhalten, und ich würde mich gern in eines der Häuschen flüchten, die an den Berghängen kleben, jedes inmitten eines dick ummauerten Gartens voll wucherndem Grün. Der Palast ist recht gut erhalten, Restaurierungsarbeiten haben sich offensichtlich auf das Wesentliche beschränkt - vielleicht nur aus Geldmangel. Doch dies entspricht dem Charakter des Ortes viel besser als übertriebene Erneuerung. Wir schlendern durch die kühlen Räume, dicke Mauern sperren die Hitze aus. Die Luft riecht nach Alter, die Farben der Wandbemalungen und Teppiche sind verblaßt. In den Gärten sorgen knorrige Bäume für Schatten, murmelnde Brunnen erfrischen die Luft. Der berühmte Tränenbrunnen, den der Sultan in Erinnerung an seine verstorbene Geliebte errichten ließ, fasziniert heute noch so wie zu Puschkins Zeit. Aus dem mit Rosen geschmückten Oberbecken tritt immer nur ein Tropfen Wasser aus und fällt in das darunter liegende Becken. Und so weiter, Tropfen für Tropfen, seit hunderten Jahren. Ich sehe das Leben in diesem Palast vor mir, träge dahindösend unter der drückenden Schwüle. Der Sultan liegt im Sommerhaus auf seinem Diwan, Domestiken wedeln ihm frische Luft zu, reichen Obst. Leise seufzend nimmt er ein Stück Melone von einem silbernen Tellerchen - ach, der Saft tropft auf den reichverzierten Kaftan. Leise nähert sich der Wesir, bringt Nachrichten und Hofklatsch. Die Russen haben das Heer des Sultans erneut geschlagen. Diese Barbaren...
Schwach winkt der Sultan ab. Warum in Eile geraten...
Etwas außerhalb von Bachtschissarai, in einem tief eingeschnittenen Tal, liegt eine weitere Sehenswürdigkeit: das Höhlenkloster. Inmitten von Touristentrauben erklimmen wir den steilen Anstieg zur Klosterkirche. Zwar gibt es recht wenig zu sehen, doch die Renaissance der orthodoxen Kirche nach siebzig Jahren gottlosem Kommunismus zieht die Leute in Massen hierher. Oli muß allerdings auf die Besichtigung verzichten, er hat kein T-Shirt an. Ein erzürnter Mönch schickt ihn von dannen.
Auf der Weiterfahrt werden wir wieder von einer Streife angehalten, ohne besonderen Grund; wahrscheinlich hatten die Beamten bloß Langeweile. Man will nicht einmal unsere Papiere sehen, sondern gibt uns nur ein paar Tips für die Weiterreise. Nicht schlecht.
Gegen abend erreichen wir die sagenumwobene Stadt Sewastopol. Wir sind am Ziel.
Uns empfängt ein Zeltplatz, der einen Vergleich mit seinen Artgenossen auf Mallorca nicht scheuen muß. Kneipenmeile, Freiluftdiskos, endloser, dicht bevölkerter Strand - alles da. All die Gründe, nicht nach Mallorca zu fahren, findet man auf einmal geil, wenn man fast zwei Wochen auf dem Bock saß und fast jede Nacht abseits der Zivilisation verbrachte. Wir stürzen uns ins Nachtleben und genießen es, überall im Mittelpunkt zu stehen. Schnell werden wir als Ausländer erkannt und zum Wodka eingeladen. Das übliche russische Quantum sind „sto gramm“, hundert Gramm, also locker zwei Doppelte. Und das bitte ex und hopp. Irgendwann torkele ich ins Zelt.
Am nächsten Morgen sehe ich, daß nicht alle den Abend so gut überstanden haben. Da eine Person, die hier ungenannt bleiben soll, das Bett hüten muß, fahren wir zu viert nach Sewastopol.
Tag 12...13
Die Stadt umschließt die Bucht mit dem Hafen der legendären Schwarzmeerflotte. Um in das Stadtzentrum zu kommen, müssen wir die Bucht mit der Fähre überqueren. Schon von Bord aus sehe ich, daß mich meine Erwartungen getäuscht haben. Ich war auf eine graue, gesichtslose Militärstadt gefaßt gewesen, die nach dem Ende der Sowjetunion dem Untergang entgegenrottet. Doch wir landen in einer lebendigen, pulsierenden Metropole, deren breite Prospekte von Menschen wimmeln. Die Küste ist gesäumt von den prachtvollen Bauten der Zarenzeit. Sie bieten ihre Fassaden dem Meer dar, das das Schicksal dieser Stadt bestimmt.
Lange schlendern wir durch Straßen und Parks. Selbst den Hafen darf man betreten, wir schauen eine Weile dem Abendappell auf einem Kriegsschiff zu. Bei der Rückfahrt sehen wir die Fassaden der Admiralitätsgebäude von der untergehenden Sonne vergoldet. Ein unvergeßlicher Anblick.
Unterdessen hatte unser Zurückgelassener auf dem Zeltplatz Gesellschaft bekommen. Als wir zurückkommen, lernen wir Oleg kennen, Dnepr-Fahrer und Sonnyboy. Als er hörte, daß eine Gruppe Motorradfahrer angekommen sei, hatte er sich auf seinen irren Dnepr-Streetfighter-Umbau gesetzt und war hergekommen, vom anderen Ende der großen Stadt Sewastopol. So etwas wird man wohl
kaum erleben, wenn man mit dem Auto unterwegs ist.
Mit Oleg zusammen fahren wir zurück in die Stadt. Wir treffen seine Freunde, die mitten auf einem belebten Platz sitzen und quatschen, Gitarre spielen und singen. Wir gesellen uns dazu und unterhalten uns in einem einmaligen Sprachgemisch aus russischen und englischen Brocken. Später ziehen wir noch durch die Diskos und Bars und machen die ukrainische Gastronomie mit dem Cola-Wodka bekannt.
Am nächsten Morgen erwachen wir in Olegs Haus. Es ist von einem kleinen Grundstück umgeben, welches bis in den letzten Winkel mit alten Motorradteilen gefüllt ist. Außerdem leben dort noch Olegs Freundin, ihr gemeinsames Kind und ein ausgewachsenes Schwein. Sehr geruhsam steht man auf und macht sich ans Frühstück. Es gibt Kohlsuppe, Salat und Brot und zum Abschluß den stärksten Tee, den ich je getrunken habe. Ich verdünne ihn ungefähr eins zu eins mit Wasser, Oli dagegen kann es nicht lassen und trinkt ihn pur. Danach schläft er mehrere Tage überhaupt nicht mehr.
Zusammen mit unseren neuen Freunden auf ihren Dneprs und Molotows fahren wir anschließend nach Balaklawa, einer Stadt etwas außerhalb Sewastopols, und besichtigen einen aufgegebenen U-Boot-Stützpunkt der Schwarzmeerflotte. Nutzlos döste die riesige Anlage mit ihren meterdicken Betonwänden vor sich hin, kaum etwas deutet auf ihre kriegerische Vergangenheit hin. Ein paar Jungs springen von einer ungefähr zehn Meter hohen Brücke in den Einfahrtskanal.
Abends laden uns Oleg und die anderen zu einer Party ein. Eine bunte Meute aus bollernden, phantasievoll umgebauten Molotows und schwer bepackten, qualmenden MZ rollt langsam stadtauswärts, ein holpriger Weg führt uns schließlich tief in den Wald abseits der Hauptstraße. Auf einer kleinen Lichtung werden die mitgebrachten Vorräte gestapelt, und bald brennt ein Feuer unter einem riesigen Suppenkessel. Bis tief in die Nacht hinein essen, trinken, lachen und singen wir.
Der neue Tag weckt uns mit einem Wolkenbruch. Der Regen ist genauso heftig wie die Hitze zuvor. Der Waldweg, der uns zurück zur Straße bringen soll, hat sich in grundlosen Schlamm verwandelt. Es ist eine wüste Plackerei, die schweren Maschinen nach heraus zu bringen, doch mit vereinten Kräften schaffen wir es. Nach dem Abschied von den russischen Bikern, die uns in den zwei Tagen soviel geholfen und viel Freude bereitet hatten, brechen wir in Richtung Jalta auf.
Tag 14...15
Der morgendliche Regen hatte die brütende Hitze weggespült und die staubige Luft reingewaschen. Es ist kühl und frisch, vom Meer kommt ein böiger Wind. Wir fahren die Küstenstraße von Sewastopol nach Jalta, und sie kommt mir vor wie die schönste Straße der Welt. Rechts das Schwarze Meer, aufgewühlt vom Sturm und voller weißer Schaumkronen, links das schroffe Küstengebirge, dessen Granitwall die Regenwolken im Inland festhält. Wie eine weiße Mütze liegen sie auf seinem kahlen grauen Haupt. Jede Kurve bietet einen weiteren atemberaubenden Ausblick, ich komme mit dem Fotografieren kaum nach.
Mit Einbruch der Dunkelheit erreichen wir Jalta. Wir mieten uns in einer kleinen Pension ein und bekommen eingeschärft, auf die Frage, wo wir wohnen, zu antworten: „im Hotel“. Wahrscheinlich ist die Sache nicht ganz legal. Egal, wir schlafen ganz vorzüglich, es gibt eine warme Dusche und ein richtiges Klo. Außerdem können wir die Motorräder gleich um die Ecke auf einem von einer wahren Bestie von Hund bewachten Parkplatz abstellen.
Den nächsten Tag verbringen wir ebenfalls in Jalta. Leider ist in der Stadt selbst wenig von der Pracht des alten Zarenbades zu sehen. Außerdem entscheiden wir, am nächsten Tag die Heimfahrt in Angriff zu nehmen, und so wird wohl nichts mit ein paar kurzen Ausflügen ins Umland. Schade.
Tag 16...18
Tja, so schnell kanns gehen. Die Erinnerung an den Grenzübergang hatte gerade angefangen, zu verblassen, da fahren wir schon auf den nächsten zu. Na gut, noch sind wir in Jalta und haben 1500 km vor uns. Trotzdem: ich wäre gern noch etwas geblieben...
Die Rückfahrt beginnt bei bestem Motorradwetter. Diesmal fahren wir den kurzen Weg durch das Herz der Krim, über Simferopol, und kommen an diesem Tag bis kurz vor Cherson.
Die nächste Tagesetappe führt uns von Cherson bis kurz vor Uman mitten durch das bäuerliche Herz der Ukraine. Es ist ein sehr angenehmes Fahren, so von Dorf zu Dorf. Bei jedem Halt stehen wir im Mittelpunkt des Interesses, was allerdings mit der Zeit etwas anstrengend wird. Denn die Fragen sind immer dieselben - woher kommt ihr, wohin fahrt ihr usw. Anstrengend ist auch weiterhin die ständige Polizeiüberwachung. Auch im letzten Kuhdorf gibt es Posten, die ihre Aufgabe sehr ernst nehmen. In Sewastopol hatte es mich noch amüsiert, daß die russischen Biker trotz ihres martialischen Aussehens peinlich genau jede Verkehrsregel befolgen, bis hin zum Sauberhalten des Nummernschildes. Doch als wir nacheinander wegen defekter Blinker, Überholens im Kreuzungsbereich und der bewußten Nummernschilder angehalten wurden, lachte ich nicht mehr. Immerhin kassieren die Polizisten bis jetzt nur, wenn wir auch wirklich etwas ausgefressen hatten, und dann stets in Landeswährung. Hoffentlich bleibt es so.
Leider nicht. Zwischen Chmelnizki und Lviv werden wir mehrfach an Straßensperren routinemäßig angehalten und laufen gleich zweimal in die Falle der Abzocker. Zwar sind die Beträge gering, frustrierend ist es aber trotzdem. Im Mittelalter nannte man es Wegelagerei, wenn verarmte Ritter sich an der Straße auf die Lauer legten, um von den Reisenden Wegzoll zu erpressen. Heute sind es verarmte Polizisten, doch ist das auch der einzige Unterschied.
Tag 19...20
Etwas entmutigt kommen wir in Lviv an. Der Zusammenhang zwischen der näherkommenden Grenze und dem Benehmen der Polizisten scheint einleuchtend. Es kann ja nur noch schlimmer werden, oder?
Doch zuerst wollen wir uns die Stadt anschauen, über die ich im Reiseführer so viel gelesen hatte. Lviv ist seit Jahrhunderten das Zentrum der westlichen, europäisch geprägten Ukraine und überstand alle Kriege unversehrt. Der Zustand der Innenstadt ist zudem wesentlich besser als der von Odessa, vermutlich wegen der Nähe zum Westen.
Wir checken im Hotel „Lviv“ ein, einem riesigen grauen Kasten aus sowjetischen Zeiten. Die Zimmer sind klein, die Inneneinrichtung heruntergekommen, warmes Wasser gibt es nur abends um sieben. Trotzdem ist es gar nicht mal so billig. Irgendwo muß sich der wirtschaftliche Aufschwung ja manifestieren. Ein freundlicher älterer Herr, der gut deutsch spricht, erbietet sich, uns die Stadt zu zeigen. Er ist Professor an der Universität und sehr stolz auf seine Heimatstadt und die Unabhängigkeit der Ukraine, natürlich nicht so sehr, daß er harte Dollar nicht zu schätzen wüßte. Und die mächtige Fahne selbst am Nachmittag gehört einfach dazu. Na, wie auch immer, Lviv ist so schön und unser Stadtführer gibt sich soviel Mühe mit uns, daß wir beschließen, noch einen weiteren Tag zu bleiben.
Das Zentrum der Stadt wird dominiert von der Oper, einem Prunkbau im Stil der Jahrhundertwende (der letzten). Auf dem Platz vor der Oper wimmelt es zu jeder Zeit von Menschen, ältere Herren im besten Anzug spielen Schach oder Domino, junge Schönheiten flanieren auf und ab, an allen Ecken wird lautstark diskutiert. Wir laufen uns müde, um ja keine der mächtigen Kirchen, der prachtvoll verzierten Bürgerhäuser und Adelspalais zu verpassen. Abends leisten wir uns ein feudales Mahl in einem der besseren Restaurants. Das Nachtleben ist allerdings nicht so aufregend wie auf der Krim.
Doch vielleicht ist das ganz gut so - schließlich heißt es Abschied nehmen von der Ukraine, morgen...
Tag 21...22
Von Lviv bis zur polnischen Grenze bei Przemysl ist es nur ein Katzensprung. Ohne Zwischenfälle legen wir ihn zurück und stehen gegen Mittag mit schlotternden Knien am Grenzübergang. Und gleich geht es los - wild aussehende Zivilisten stehen an einem improvisierten Schlagbaum vor dem Eingang und verlangen Geld. An danebenstehenden Wechselhäuschen fragen wir, ob das denn offizielle Grenzbeamte seien. Da man das verneint, strafen wir sie im weiteren mit Mißachtung und warten, bis sich das Tor zur Grenzkontrolle öffnet. Und siehe da: man fertigt uns schnell und ohne jegliches Bakschisch ab. Wahrscheinlich herrscht hier, am größten Grenzübergang der Ukraine in Richtung Westen, ein anderes Regime als in Moldawien.
Erleichtert atme ich auf.
Die 800 km durch Polen erscheinen mir wie eine lockere Spazierfahrt am Sonntagnachmittag. Es ist schon seltsam, wie sich die Dimensionen ändern. Genau vor einem Jahr hatten wir schon einmal an dieser Grenze gestanden, auf unserer Tour durch Polen. Damals schien mir das vor uns liegende riesige Land gefährlich und angsteinflößend, und schon die Fahrt durch Polen bot mir Abenteuer genug. Heute komme ich aus der anderen Richtung und fühle mich in Polen schon fast wie zu Hause. Es sieht ja auch ähnlich aus, gute Straßen, moderne Autos, Gewerbegebiete.
In der Nähe von Krakow schlagen wir unser Nachlager auf. Noch ist uns nicht ganz klar, wie wir weiterfahren sollen. Oli und ich möchten nach Hause, mir geht es körperlich nicht besonders gut, Johannes, Ralf und Alex dagegen wollen noch ein paar Tage dranhängen. Erst mal drüber schlafen.
Am nächsten Morgen beschließen wir, uns zu trennen. Das ist zwar schade, aber der eigentliche Urlaub ist zu Ende, also - warum soll nicht jeder fahren, wie er will? Wir verabschieden uns.
Über die weitere Fahrt Worte zu verlieren lohnt nicht. Wir bolzen durch ganz Polen und sind am Abend wieder in Deutschland. Ein reichlich prosaisches Ende für eine so große Fahrt.
Insgesamt bin ich in reichlich drei Wochen 5856 km durch sieben Länder gefahren. Es war die größte Reise meines Lebens, und es fällt mir schwer, für sie ein kurzes und griffiges Fazit zu finden. Die Ukraine ist ein Land, das nicht auf Tourismus vorbereitet ist. Übernachtungsmöglichkeiten gibt es nur in den wenigen Urlauberzentren, wie der südlichen Krim. Anspruchsvolle Restaurants wird man außerhalb der ganz großen Städte ebenso vergeblich suchen. Mit Kriminalität, vor der wir soviel Angst hatten, machten wir dagegen keine Erfahrung - abgesehen von der allgegenwärtigen Korruption.
Warum hat es mir trotzdem so gut gefallen?
Vergnaddelt
vor 2 Tagen