August 2002: Wie ich auf die Idee gekommen bin, die Ostsee auf einer MZ RT 125 zu umrunden, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war die bewusste Beschränkung auf das unbedingt Notwendige der Grund, oder mein leichter Widerwille gegen 300 Kilogramm schwere Reise-„Enduros“ oder – ach, was weiß ich. Ich weiß nur, dass ich eines schönen regnerischen Augusttags die 130 Kilogramm schwere und 15 PS starke Viertakt-RT, beladen mit 80 Kilogramm Fahrer und 30 Kilogramm Gepäck, mit 85 Kilometern pro Stunde der polnischen Grenze entgegentrieb.
Eine Umrundung des baltischen Meeres hatten mein Reisegenosse Frank und ich uns vorgenommen. Schaut man auf die Landkarte, so gleicht dieses Meer einem sehr großen Krokodil, das sich anschickt, Finnland zu fressen. Der Finnische Meerbusen ist der Unterkiefer, der Bottnische Meerbusen der Oberkiefer, und der Schwanz schlängelt sich um Dänemarks zahllose Inseln. Und wir wollten das ganze, riesenhafte Untier umkreisen.
Hier gibt es die Bilder zur Reise.
Ein genauer Check unserer Urlaubszeit (zwei Wochen) und der zu fahrenden Strecke (über 6000 Kilometer) zeigte aber die Aussichtslosigkeit dieses Plans. Die beiden Kiefer konnten wir von Anfang an vergessen, und selbst bei einer täglichen Fahrleistung von ungefähr 300 Kilometern, Fährpassagen zwischen Tallinn und Helsinki respektive Turku und Stockholm würde es noch richtig knapp. Wir entschieden uns, den richtigen Urlaub - also Erholung, Baden, Sonnen, Sehenswürdigkeiten undsoweiter - eben auf ein anderes Mal zu verschieben. Um hinterher behaupten zu können, die Ostsee umkreist zu haben.
Die ersten beiden Reisetage führen uns an die polnische Ostseeküste zwischen der Insel Wolin im Westen und der Danziger Bucht im Osten. Denkbar krass ist der Gegensatz zwischen den quirligen Badeorten an der Küste und den vielen verschlafenen Dörfern und Kleinstädten im Landesinneren. Diese Gegend nannte man früher einmal Hinterpommern - womit alles gesagt ist.
Leider ist es nur selten möglich, direkt am Meer entlang zu fahren. Kilometerlang reihen sich Seebäder aneinander, deren buntes Treiben auf den Straßen zu Schrittgeschwindigkeit zwingt, oder die Küste ist aus Naturschutzgründen für den Verkehr ganz gesperrt. Wir weichen aus ins Hinterland, das Land der endlosen Alleen. Alleen? Ach was, es sind eigentlich Tunnel, die fein säuberlich aus dem Blattwerk der Bäume herausgefräst wurden. Sie schützen gut vor dem recht starken Seewind, der mir und meiner RT das Leben schwer macht: kommen zu den ohnehin vorhandenen Fahrwiderständen noch jene durch Gegenwind oder gar fiese, langanhaltende Steigungen hinzu, so tut sich der kleine Viertakter spürbar schwer. Der lange sechste Gang ist dann nicht mehr einsetzbar. Franks NTV rollt bei diesem Tempo wahrscheinlich noch mit Standgas einher.
Trotzdem kommen wir jeden Abend irgendwo an, meist auf Zeltplätzen in Strandnähe, und genießen für ein paar Stunden Sand und Meer.
Bei Danzig verabschieden wir uns fürs erste von der Ostsee. Weil wir kein Visum für die russische Enklave Kaliningrad besitzen, müssen wir bis zum polnisch-litauischen Grenzübergang bei Marijampole ausweichen. Haben aber so noch die Gelegenheit, ein paar Ausblicke auf die Masurische Seenplatte zu erhaschen.
Auf halbem Wege dorthin passieren wir die Marienburg. Von hier aus – der größten aus Backsteinen gemauerten Wehranlage Europas – beherrschten im frühen Mittelalter die Ritter des Deutschen Ordens das umliegende Land. Die mächtige Burg ist eine der wenigen Sehenswürdigkeiten, bei der auch wir Kulturbanausen aus dem Sattel steigen und Fotos machen. Aber nicht nur die Marienburg, auch jede Dorfkirche gibt Zeugnis, welch eindrucksvollen Bauwerke man aus profanen Ziegelsteinen auftürmen kann.
Die kurvenreichen Landstraßen Masurens – Schnellstraßen gibt es hier nicht mehr – versöhnen mich wieder mit dem Leistungsangebot der MZ und lassen mich ihre Vorteile wie das leichte Handling und die bequeme Sitzposition um so mehr genießen.
Im litauischen Klaipeda angekommen gilt es, etwas Wichtiges nachzuholen; hat uns doch der Kaliningrader Bezirk daran gehindert, die berühmte Kurische Nehrung von ihrem Beginn an zu befahren. Und dabei war es nicht zuletzt der Ruf dieses Naturwunders, der mich so sehr ins Baltikum gelockt hatte.
Von Klaipeda aus bringt uns eine Fähre auf die Nordspitze dieser 100 Kilometer langen, aber nur wenige hundert Meter breiten Halbinsel, die nichts anderes ist als eine gewaltige Sanddüne. Eine gut ausgebaute, mautpflichtige Asphaltstraße durchmisst die Nehrung auf ihrer gesamten Länge. Hält man sich nur auf dieser Straße auf, was wir taten, so erschließt sich einem der besondere Reiz der Landschaft natürlich kaum. Was soll’s. Wir sind dort gewesen, das zählt.
Nach einer Nacht im Lloret de Mar des Baltikums, Palanga, lassen wir Litauen hinter uns.
In Lettland werden wir unserer Ostsee wiederum untreu und fahren, ausgehend von Liepaja, etwas weiter im Landesinneren. Hier ist nichts zu spüren vom brodelnden Leben der Badeorte an der Küste. Das Land ist so dünn besiedelt, dass es verlassen wirkt. Alle fünfzehn, zwanzig Kilometer taucht ein Dorf aus den Hügeln auf, wenige Holzhäuser, die sich zwischen verwildertem Weideland und stoppeligen Roggenfeldern verlieren. Stundenlang geht es so dahin. Die erlaubten 90 Stundenkilometer sind exakt die Geschwindigkeit, die ich der RT als Dauertempo zumuten will. Wenn um einen herum nichts passiert, dann hat man viel Zeit, sich nutzlose Gedanken zu machen. Was, wenn ich jetzt eine Panne hätte? Wie sorgfältig ist eigentlich diese surrende kleine Explosionsmaschine unter mir zusammengebaut? Immerhin jagt der Kolben bei diesem Tempo 130 Mal pro Sekunde auf und nieder, ohne Pause fallen die Nocken mit der Kraft eines Hammerschlags über die vier zierlichen Ventilschäfte her. Eine einzige kleine Zündkerze steht zwischen mir und dem aussichtslosen Versuch, im lettischen Outback einen Pannendienst zu erreichen. Glücklicherweise läßt sich die RT von meinen defätistischen Gedanken nicht verwirren und surrt unbeirrt weiter.
Größere Schwierigkeiten macht da schon die Angewohnheit mancher lettischer Straße, sich unvermittelt in eine Schotterpiste zu verwandeln. Selbst große Überlandstraßen, etwa die von Ventspils nach Kolka die Ostseeküste entlang, sind außerhalb der Ortschaften unbefestigt. Zwar erweist sich die RT auch hier als echte MZ mit Enduro-Genen, aber allzu lang wollen wir den schwer beladenen Maschinen und uns selbst diese Waschbrettpisten nicht zumuten. Für die Weiterreise nach Riga nutzen wir notgedrungen die direkte Verbindung, circa 160 Kilometer geradeaus, auf der uns die Lastwagen das Leben schwer machen.
Nach drei Tagen in fast menschenleerer Landschaft überwältigt uns die schöne und lebenslustige lettische Hauptstadt Riga restlos. Der größten Stadt des Baltikums ist ihre glanzvolle Vergangenheit in jedem Winkel anzusehen, und die Letten tun alles dafür, ihrer Metropole eine ähnlich glanzvolle Zukunft zu verschaffen. Der Muff einer sowjetischen Provinzstadt wurde weggefegt, das Stadtzentrum mit seinen alten Kirchen und den unzähligen Bürgerhäusern flächendeckend restauriert. Wir finden ein sympathisches Hotel in Zentrumsnähe (dem seine sowjetische Vergangenheit durchaus noch anzusehen ist) und genießen für einen langen Abend das bunte Treiben in dieser kleinen Weltstadt.
Von Riga nach Tallinn, der Hauptstadt Estlands, führt eine schnurgerade Straße von 300 Kilometern Länge. Bei Pärnu, auf etwa halbem Weg, biegen wir jedoch links ab, um uns noch ein wenig im kleinsten der baltischen Staaten umzuschauen. Weit komme ich nicht. Bei einer kleinen Pause mitten in der Pampa läuft der Vergaser über: der Schwimmer hängt. Mist. Mitten im Outback den Vergaser zerlegen, und das am späten Nachmittag? Ich riskiere die Weiterfahrt, bei dem üblichen Dauervollgas sollte die Benzin-Überversorgung nicht so stark ins Gewicht fallen. Dieser tolle Plan funktioniert auch ganz gut bis nach Tallinn.
Auf dem Weg dahin erwartet uns noch einer der schönsten Flecken Erde der bisherigen Reise. Die Insel Muhu, zwischen dem estnischen Festland und der großen Insel Saaremma gelegen, präsentiert sich als kleine Irland-Kopie. Im Unterschied zum sandigen Festland muss die Insel früher mit Steinen ganz bedeckt gewesen sein, geht man nach der Zahl von Felsbrocken, mit denen sie noch immer bedeckt ist. Wurden doch aus den Steinen neben einer erklecklichen Anzahl von Häusern auch kilometerlange Steinmauern aufgetürmt, zwischen denen für Weiden und Wiesen nicht mehr viel Platz ist.
Wir dürfen unser Zelt auf dem Gelände eines Landhaus-Hotels errichten und glauben, dies sei der schönste Platz der Welt.
Am nächsten Morgen drehen wir noch eine Runde über die Insel Saaremma mit ihrer hübschen Hauptstadt samt wirklich beeindruckender Wasserburg und nehmen dann den Weg nach Tallinn unter die Räder. Wir haben die drei baltischen Staaten in sechs Tagen durchquert, zwei Tage für jedes Land. Viel zu hektisch, denkt sich auch die MZ und versagt mir mitten in der estnischen Hauptstadt den Dienst.
Tallinn empfängt uns mit einer kilometerlangen Straßenbaustelle. Hier, im Stau, kann der Motor das ungehindert durchs weit offene Schwimmerventil strömende Benzin endgültig nicht mehr schlucken und säuft ab. Immerhin gelingt es mir, die Regelung der Kraftstoffversorgung mit dem Benzinhahn selbst übernehmend, weiterzufahren, bis einer Fata Morgana gleich ein Yamaha-Händler am Straßenrand erscheint. Der erste Motorradhändler, dem wir auf unserer Fahrt begegnen, und das im besten aller möglichen Momente! Wir stellen fest, dass auch Franks NTV die Reise nicht ganz unbeschadet überstanden hat (die Kofferhalter sind durchvibriert), lassen die Maschinen in der Obhut der freundlichen Mechaniker zurück und suchen uns ein Hotel.
Nach ein paar Stunden Trübsal gelingt es uns immerhin, Tallinn zu genießen. Für die estnische Hauptstadt gilt das gleiche wie für Riga – was für eine wunderschöne Stadt!
Am nächsten Morgen bekommen wir die Motorräder in funktionstüchtigem Zustand zurück, und die Heimfahrt beginnt. Angesichts der Reize Finnlands und Schwedens ist diese Einstellung zwar ungerecht, aber die Zeit drängt. Was von den beiden Ländern bleibt, ist die Erinnerung an satte Farben: Blau (für den Himmel), grün (für die Wälder), gelb (für die Kornfelder) und rostbraun (für die Holzhäuser, die übrigens in Südfinnland genauso aussehen wie in Schweden). So einfach, und doch so schön! Und die Fahrt mit der Fähre von Turku nach Stockholm, durch Schären und Inseln, ist fast schöner als das Motorradfahren.
Es bleibt ebenfalls die Erkenntnis, dass selbst auf einem Motorrad mit nur 125 Kubikzentimetern ein schöner Motorradurlaub möglich ist. In fast allen Ländern, die wir durchfahren haben, ist die Geschwindigkeit auf den Landstraßen auf 90 Kilometer pro Stunde begrenzt, eine Geschwindigkeit, die sich mit der 15 PS starken RT wie von selbst als Reisetempo einstellt. Natürlich fehlt eine Leistungsreserve zum Überholen. Am Komfortangebot der RT mit der superbequemen Sitzbank, der gelungenen Ergonomie und der gut abgestimmten Federung gab es während der gesamten 4000 Kilometer nichts zu meckern, ebenso wenig am stabilen und trotzdem handlichen Fahrverhalten.
Kann man die Ostsee in zwei Wochen mit einer 125er umrunden? Man kann. Doch sollte man danach unbedingt eine Woche Urlaub einplanen.
Vergnaddelt
vor 2 Tagen