Landstraßen: "Freies Fahren ist nicht mehr zeitgemäß"

Für einen Motorradfahrer sollte nicht nur die Maschine interessant sein, die ihn bewegt, sondern auch die Unterlage, auf der er sich bewegt. Am liebsten nimmt er dafür kurvenreiche Landstraßen her. Doch diese sind mittlerweile als gefährlich verschrien und sollen streng reguliert werden. Ist es mit 100 km/h und freiem Überholen bald vorbei?

Der für Zweiradpiloten bevorzugte Straßentyp ist bekanntlich die Landstraße, die möglichste verkehrsarm und kurvenreich sein sollte – und landschaftlich schön gelegen obendrein. Verkehrsexperten und manche Politiker sehen die schmalen Asphaltbänder zwischen Hinterposemuckel und Vorderstrullendorf allerdings ganz und gar nicht mit den verklärten Augen des Genussfahrers, sondern als einen der letzten unkontrollierten Verkehrsräume.
Quelle: Destatis
Mit Statistiken lässt sich das Gefahrenpotenzial leicht beweisen: Über die Hälfte der Verkehrstoten sind hier zu beklagen (1.860 von 3.339 im Jahr 2013, Quelle: Statistisches Bundesamt). Natürlich müsste man diese Menge noch mit der Zahl der zurückgelegten Kilometer gewichten, aber das wird meist unterlassen, wenn es um ideologisch motivierte Aktionspläne oder schlicht um „die Sicherheit“ geht. Fakt ist: Meinungsstarke Interessengruppen haben den Landstraßenverkehr ins Visier genommen und verlangen Maßnahmen. So sagte etwa Kay Nehm, Präsident des Verkehrsgerichtstages, zu „Spiegel Online“: „Um die Unfallzahlen auf Landstraßen zu senken, muss man mehr Geschwindigkeitsbeschränkungen einführen.“ Auch das Überholen soll an immer mehr Stellen verboten werden. Zum Ausgleich sollen Lkw, deren Landstraßenlimit derzeit bei 60 km/h liegt (ja, wirklich!), auch 80 fahren dürfen, was dazu führen soll, dass generell weniger Überholanlässe eintreten.

Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) spricht sich zwar derzeit noch gegen ein niedrigeres Tempolimit aus. Aber auch er wird sich an dem 2011 formulierten Ziel der Bundesregierung messen lassen müssen, bis 2020 die Zahl der Verkehrstoten gegenüber 2010 um 40 Prozent zu senken. Damals waren es 3.684 – Zielwert ist also 2.210. Davon ist Deutschland nach der Hälfte der Zeit noch sehr weit entfernt.
Aktionismus droht. Zwar dürften sich selbst die engagiertesten Verkehrssicherheitsexperten schwer tun, aus einer um 20 Prozent niedrigeren Geschwindigkeit harte Zahlen an verhinderten Unfällen abzuleiten. Wer häufig auf Landstraßen fährt, der weiß, dass das durchschnittliche Tempo weit unter 100 liegt. Aber wenn die Devise lautet: „Es muss etwas getan werden!“, dann fallen Fragen nach der konkreten Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen schnell unter den Tisch. Und Einwände werden mit dem Totschlagargument, dass schnelleres Fahren ja auf keinen Fall sicherer sein könne als langsameres, beiseitegewischt.

Quelle: BASt
Neue Richtlinien für Landstraßenbau
Noch ist freilich nichts entschieden. Auch muss man wohl nicht befürchten, dass irgendwann auf dem gesamten deutschen Überland-Straßennetz Tempo 80 gilt. Denn es gibt nicht DIE eine Landstraße, sondern unterschiedliche Bautypen je Bedeutung und notwendiger Fahrzeugkapazität der jeweiligen Verbindung. Die einschlägigen Vorschriften sind in den „Richtlinien zur Anlage von Landstraßen“ (RAL) festgehalten, die zuletzt im Jahr 2013 überarbeitet wurden. Auch hier lautete das Ziel: die Zahl der Verkehrstoten massiv zu reduzieren.
Künftig soll es vier sogenannte Entwurfsklassen für Landstraßen geben:
    •    Fernstraßen: Diese werden dreistreifig mit abwechselnder Überholmöglichkeit ausgeführt: Um die beiden Fahrtrichtungen deutlich zu trennen, dient eine doppelte durchgezogene Linie mit einem einen Meter breiten, grünen Zwischenfeld. Einmündungen werden kreuzungsfrei ausgeführt.
    •    Überregionalstraßen: Hier sollen die dreistreifigen Abschnitte in „regelmäßigen Abständen“ auftreten, um das Überholen zu ermöglichen.
    •    Regionalstraßen: Die heute üblichen Straßen, allerdings mit deutlich schärferen Kriterien in Sachen Überholverbot.
    •    Nahbereichsstraßen: Nur ein Fahrstreifen ohne Mittenmarkierung, dafür mit zwei relativ weit vom Fahrbahnrand entfernten Leitlinien, die bei Gegenverkehr überfahren werden dürfen.

„Die neuen RAL werden – insbesondere durch die gezielte Anlage von Überholfahrstreifen und die anforderungsgerechte Gestaltung der Knotenpunkte – einen positiven Einfluss auf die Verkehrssicherheit haben“, heißt es bei der Bundesanstalt für Straßenwesen. Allerdings ist in diesem Regelwerk sehr deutlich die Maxime zu erkennen, dem Nutzer möglichst wenig Handlungsfreiheit und Eigenverantwortung „aufzubürden“. „Das Freie Überholen ist nicht mehr zeitgemäß“, sagte ein Experte für Straßenbau dem Autor. „Mit der Eigenverantwortung der Autofahrer allein können wir die Unfallzahlen nicht senken.“

Stress am Ende des Überholstreifens
Ob die in den RAL festgelegten Straßenquerschnitte allerdings der Weisheit letzter Schluss sind, darf bezweifelt werden. Die dreistreifigen Straßen mit abwechselnder Überholmöglichkeit (Klasse 1 und 2) – die es ja auch heute schon an vielen Stellen gibt – sorgen am Ende des Überholstreifens regelmäßig für scharfe Bremsmanöver, weil sich eben doch noch ein Autofahrer schnell vorbeiquetschen will. Danach geht es im Bummeltempo weiter zur nächsten Überholmöglichkeit, wo man dann erneut Vollgas gibt und hofft, dass es diesmal reicht. Zwar meint der befragte Verkehrsexperte, bereits einen Paradigmenwechsel in Sachen Überholen zu erkennen. Vielen Autofahrern sei die Raserei zu viel und sie blieben lieber in der Lkw-Schlange, als sich der Gefahr des Überholens auszusetzen. Aber für alle gilt das sicher nicht – und erst recht nicht für Motorradfahrer.
Früher gab es übrigens einen anderen Straßenquerschnitt für eine solche besonders leistungsfähige Landstraße: den sogenannten überbreiten Querschnitt, der sich in Deutschland  noch an wenigen Bestandsstrecken (beispielsweise der B12 nahe Kempten oder der B27 bei Tauberbischofsheim) erfahren lässt. Hier sind beide Fahrstreifen etwa doppelt so breit ausgeführt wie üblich, aber ohne bauliche Trennung. Das bietet Langsamfahrern die Chance, sich rechts zu halten, sodass die schnelleren ohne Beeinträchtigung des Gegenverkehrs überholen können. Die „Crux“: Das Prinzip setzt guten Willen und Mitarbeit bei den Straßennutzern voraus, um zu funktionieren. „In Deutschland hat diese Straßenbauart in Sachen Verkehrssicherheit schlecht abgeschnitten und wird deshalb nicht mehr neu gebaut“, erklärt der befragte Experte.
Auf den Straßenbauarten 3 und 4 dürfte es in Zukunft, wenn die Empfehlung des Verkehrsgerichtstags umgesetzt wird, deutlich häufiger als heute Überholverbote geben. Damit ein Pkw sicher an einem Lkw vorbeikommt, sind etwa 600 Meter freie Sicht nötig. Diese Sichtachsen zu schaffen ist baulich aufwendig und damit teuer. Dass ein Motorrad natürlich viel schneller überholen könnte, spielt aus Sicht der Verkehrsplaner keine Rolle. Differenzierte Überholverbote, die nicht für Motorräder gelten, wird es nicht geben.
Ein ungutes Gefühl hinterlässt auch der Querschnitt 4: Die relativ weit eingerückte Hilfslinie – sie soll dafür sorgen, dass Autofahrer nicht so leicht von der Straße abkommen – wird dazu führen, dass sich viele Verkehrsteilnehmer zur Straßenmitte orientieren und sich dabei „im Recht“ fühlen. Das wird das Überholen weiter erschweren.

Fazit: Die allgemeinen gesellschaftlichen Trends gehen auch am Straßenbau nicht vorbei. Freiheit und Selbstverantwortung, die zu Fehlern und damit zu Unfällen führen kann, wird abgelöst durch Steuerung und immer genauere und strengere Vorschriften. Natürlich nur mit den besten Absichten und im Sinne der Sicherheit! Da ist es fast ein Trost, dass nichts in Deutschland so lange dauert wie der Verkehrsbau. Und so werden wir uns noch viele Jahre an den veralteten, unvollkommenen, gefährlichen und damit wunderschönen Landstraßen erfreuen können.

Info: Statistik zu Motorradunfällen
Im Jahr 2013 kamen 29,8 % der verunglückten Motorradbenutzer bei Alleinunfällen zu Schaden, das heißt, es waren keine anderen Fahrzeuge oder Fußgänger beteiligt. Unfallgegner von Motorradfahrern bei Zusammenstößen mit einem weiteren Verkehrsteilnehmer war zu 79,8 % ein Pkw-Fahrer. Bei den 13 398 Zusammenstößen dieser Art verunglückten 1.432 Pkw-Insassen und 13.997 Motorradbenutzer. 90,7 % der Unfallopfer waren also Motorradfahrer oder -mitfahrer, aber 70,6 % dieser Unfälle wurden von Pkw-Fahrern verursacht.
Quelle: Statistisches Bundesamt