04.06.2019

270er sind falsche Fuffziger


Wie der Zufall es wollte, konnte ich keine zwei Wochen nach der Kawasaki W 800 (siehe unten) nun auch die zweite neue 48-PS-Retromaschine auf dem Markt probefahren, die Royal Enfield Continental GT 650. Kann man die eigentlich retro nennen? Eher nicht, schließlich ist sie das modernste Motorrad, das Royal Enfield je gebaut hat. Der Reihentwin ist zwar luftgekühlt, aber kurzhubig ausgelegt und hat eine Kurbelwelle mit 270 Grad Hubzapfenversatz - so wie eigentlich jeder moderne Zweizylinder. Und so fährt er sich dann auch. Ich muss sagen, ich hätte etwas mehr Bums erwartet. Das Anfahrdrehmoment ist mager, man muss drehen, aber auch dann wirkt sie wegen ihrer langen Übersetzung nicht wirklich spritzig. OK, das gute Stück war nagelneu, ich habe es natürlich bei Halbgas und maximal 5.000 Umdrehungen belassen.
Insgesamt glaube ich übrigens, dass der Effekt der "falschen" Kurbelwellenkröpfung auf das Laufverhalten überschätzt wird. Trotz des identischen Zündabstands fühlt sich ein V2 ganz anders an. Und damit meine ich jetzt nicht nur archaische Konzepte wie den Ducati-Motor, sondern beispielsweise  auch den eigentlich braven 52-Grad-V meiner Honda Transalp. Da hört und spürt man das wilde Beben, während die meisten 270-Grad-Reihenmotoren nur beim Anfahren so etwas wie ein Bollern zusammenkriegen. Bei höheren Drehzahlen klingen sie dann wie ein halber Automotor.
Aber egal, es war ein schöner Tag, die Conti 650 sieht klasse aus, die Linie ist toll, die Proportionen stimmen, und auch die Detailverarbeitung kann sich wirklich sehen lassen. Für 6.600 Euro Grundpreis ist sie im Retrosegment (auch wenn sie nicht retro ist) ein echtes Schnäppchen. Ich würde aber die Interceptor währen, die hat einen Rohrlenker und kostet noch ein paar Hunderter weniger. Irritiert hat mich nur, dass sie mehrmals das Standgas nicht halten konnte, sondern beim Gaswegnehmen ausging. Nach einer kurzen Pause mit Schlüsselabziehen war das Phänomen dann wieder verschwunden.