27.07.2022

Brüdertour de France

Muss denn alles immer größer werden? Geht es denn immer nur um „schneller, weiter, mehr“? Ja! Vor allem, wenn es sich um die alljährliche Brüdertour handelt, die sich längst zum absoluten Highlight meines Motorradjahrs entwickelt hat.
In diesem Jahr haben wir dafür von unseren Partnerinnen unglaubliche sechs Tage freibekommen, was erstmals eine richtige Reise möglich machte und uns den Blick richten ließ auf ein Revier, das zumindest wir zwei älteren Brüder noch nie per Motorrad erkundet hatten: Südfrankreich mit den Westalpen und der Provence.
Die Vorfreude war unglaublich, und auch jetzt, eine gute Woche nach der Rückkehr, kann ich es noch gar nicht so richtig glauben, dass ich wirklich den Col du Galibier, gefahren bin, auf dem Bonette stand und in die Verdonschlucht heruntergeschaut habe.

Das erste Stück Torte im Schwarzwald
Los ging es am Sonntag, Treffpunkt Schwarzwald. Mit dem ersten Stück Torte im „Café am Rathaus“ in Todtnau (großer Tipp, da müsst ihr unbedingt mal hin!) setzte das Urlaubsgefühl ein. Eigentlich war der erste Tag als reiner Anreisetag geplant; doch hatten wir mehr als genug Zeit, den Südschwarzwald so richtig zu genießen. Das Wetter war perfekt und blieb es auch für die gesamte Woche.
Kleine Überraschung nach dem Grenzübergang: Ungewöhnlicherweise war Frankreich zunächst hässlicher und langweiliger als Deutschland. So war das nicht ausgemacht! Aber OK, wir mussten durch die Burgundische Pforte, das Fulda Gap von Frankreich – eine flache und dicht besiedelte Landschaft. Mit 30 bis 50 km/h rollten wir durch riesige Dörfer mit sich kilometerweit hinziehenden Siedlungen beachtlich großer Einfamilienhäuser. Und schon ganz schnell wurde ich auf die französische Pest der Straßenschwellen aufmerksam, die den Verkehr auch wirklich auf 30 verlangsamen. Spoiler: Mindestens 1000 davon müssen wir auf der weiteren Reise überfahren haben.

Die Stadt hat ihre besten Jahre hinter sich
Erster Etappenort war Montbeliard, das in früheren Zeiten unter dem poetischen Namen Mömpelgard zu Württemberg gehört hatte. Heute viel bekannter ist der kleine Vorort Sochaux, Gründungsort und historische Firmenzentrale von Peugeot. Zum Besuch des sicherlich faszinierenden Firmenmuseums hatten wir leider keine Zeit, denn wir mussten uns nach der Ankunft erst einmal um Wichtigeres kümmern. Das Stiefelbier!
Natürlich konnte man selbiges im Hotel erstehen, nur die Preise ließen uns kurz trocken, nun ja, schlucken: Mit 7,50 Euro ist man in Frankreich für den halben Liter dabei – Ausreißer nach oben nicht ausgeschlossen.
Aber OK. Zum Sparen waren wir ja nicht in Frankreich. Und dass die Gastronomie ebenfalls teuer ist, das wusste ich schon aus meinem erst wenige Wochen zurückliegenden Familienurlaub auf Korsika. Pizza und Burger gibt’s für 15 Euro, alles richtige Essen kostet über 20. In Montbeliard kam die Schwierigkeit hinzu, dass die Stadt ihre besten Tage eindeutig hinter sich hat und es nur wenige geöffnete Restaurants gab. Essen wie Gott in Frankreich? Sicher nicht hier.

Die Tour de France überholen
Am ersten Tag standen 516 Kilometer mehr auf dem Tacho, wovon rund die Hälfte Autobahnkilometer waren. Am nächsten Tag galt es dann, eine ähnliche Strecke zurückzulegen. Denn getreu meinem Wahlspruch „Planung ersetzt Zufall durch Irrtum“ hatten wir vollkommen übersehen, dass sich zeitgleich mit uns eine erhebliche Anzahl Rennradfahrer samt deren Fans in den Alpen herumtreiben würden – die Alpenetappen der Tour de France fanden genau in der gleichen Woche statt wie unsere Brüdertour. Also galt es, die Route der Tour zu umgehen und die Tour im südlichen Teil der Westalpen fortzusetzen. Na ja, ein paar Pässe gibt es dort ja auch.
Als Etappenort wählten wir Briancon, direkt südlich des Col du Galibier, der als später Höhepunkt eines langen Fahrtages 2.642 Meter hoch vor uns aufragen würde.
Doch zuerst führte uns der Weg durch das wohl unbekannteste Gebirge Frankreichs: das Jura. Es zieht sich entlang der Grenze zur Schweiz von Belfort bis kurz vor Genf und ist dünn besiedelt und landwirtschaftlich geprägt. Abgesehen von den Flusstälern ist es auch keine spektakuläre Motorradgegend, aber mittlerweile sind mir langweilige, aber einsame Gegenden lieber als überlaufene Hotspots.
Zum Einrollen eignete sich das Jura jedenfalls bestens, und auch, um einen Blick auf das „tiefe Frankreich“ zu erhaschen (La France profonde), die ländliche Provinz, in der die Uhren langsamer ticken, Landwirtschaft und Handwerk den Alltag bestimmen und Bauer Jaques zum Mittag sein Gläschen Roten trinkt – oder so ähnlich.

100 Kilometer geradeaus geht auch in den Alpen
Am Lac du Bourget hatte uns die Zivilisation dann wieder, und ab Chambery blieb uns nichts anderes übrig, als rund 100 Kilometer geradeaus ein Flußtal hinauszufahren (die Isere, glaube ich), Tja, die Alpen, Baby – da geht’s auch mal geradeaus, wenn gerade kein Pass zur Hand ist. Der wartete mit dem Galibier auf uns: Tobias versicherte uns zwar glaubhaft, dass er da schon ganz allein hochgefahren ist – wir mussten uns den Pass aber mit einer Unzahl von Wohnmobilen teilen, deren Besitzer sich die besten Stellen für den Blick auf die Radrennfahrer zwei Tage später sichern wollten. Ein Rummel, das glaubt man kaum.
Doch mit gut 100 Newtonmetern reicht es eigentlich immer zum Überholen (hatte ich schon erwähnt, dass ich mit der Bonnie unterwegs war?) – Michael auf der NC 700 zeigte aber, dass man die auch nicht unbedingt braucht.
Beim Hereinrollen nach Briancon stellten wir mit Erschrecken fest, dass es kein Benzin an der Tankstelle gab (dafür immerhin Bier) – und mit Entzücken, das Briancon eine wunderschöne Stadt ist. Eine Festung umschließt eine Altstadt mit ganz vielen mittelalterlichen Häusern in schmalen Gassen, durch die kaum ein Auto passt. Ich fühlte mich an Bonifacio auf Korsika erinnert. Pizza, Burger, Bier – und dann ab ins Bett: Nach 498 Kilometern französischer Landstraße wird man abends nicht alt.

Die Route des Grandes Alpes von ihrer besten Seite
Und am nächsten Tag war ja wieder Motorradfahren angesagt. Die alten Säcke (also wir) merkten die Belastung für Knie, Hinterteil und Rücken schon nach diesen zwei langen Tagen – und vier weitere sollten noch folgen. Deshalb am Dienstag vielleicht mal etwas weniger Kilometer? Klar! Das nächste Ziel – die Verdonschlucht – lag auf der gewählten Route gerade einmal rund 350 Kilometer entfernt. Ein Kinderspiel! (Nicht.)
Gleich morgens bei wunderbar frischen Temperaturen stand die Route des Grandes Alpes auf dem Programm: Col D’Izoard (2.360 Meter), Col de Vars (2.109 m), Col de la Cayolle (2.326 m) und Col de Valberg (1.673 m) folgten aufeinander, mit dem Col de Vars als fahrerischem Klimax. Und irgendwo muss auch der Bonette gewesen sein, mit 2.802 Metern der geografische Höhepunkt der Tour und der gesamten alpinen (Durchgangs-)Straßenwelt. Hätten wir das also auch abgehakt.
In den tieferen Lagen der Seealpen wurde das Fahren noch einmal anspruchsvoller. Was für ein unfassbares Kurvenkarussell! Leider setzt bereits das Vergessen darüber ein, welche Route wir gefahren sind. Der Fluch des Navifahrens, das aber sonst nur Vorteile hat. Die einzige Spur ist eine Bistro-Rechnung aus dem Ort Beuil, also sind wir wohl nach dem Bonette dem Tal des Tinée gefolgt.

Vollständige Abwesenheit von Geraden
Von Beuil aus hielten wir uns direkt Richtung Westen, wo wir noch ein Gebiet mit unglaublich intensiv dunkelrot gefärbten Felsen kreuzten, und erreichten schließlich die Schlucht des Verdon – Europas angeblich tiefsten Canyon. Ob das nun stimmt oder nicht (es gibt anscheinend noch etwas größeres in Montenegro, da müsste man eigentlich auch mal hin): es war ein majestätischer Anblick. Dass die Aussichtsstraße sich erneut durch die vollständige Abwesenheit von Geraden auszeichnete, war natürlich klar. Und so stellten auch die insgesamt 342 Kilometer des dritten Fahrtages eine absolut ausreichende Etappenlänge dar.
Nicht gefasst waren auf die überwältigende Schönheit unseres dritten Etappenziels. Moustiers-Sainte-Marie – wer das schon mal gehört hat, darf sich das Klugscheißer-Bienchen in Gold abholen. Eines der „schönsten Dörfer Frankreichs“, und das mit Recht. Der Ort war an einen Berghang gebaut und wurde von zwei Felstürmen überragt, zwischen denen ein kleiner Fluss hervortrat, der sich in Kaskaden durch den gesamten Ort stürzte. Ein Platz wie gebaut als Set für eine teure Hollywood-Mittelalterserie. Zwischen den Felstürmen war ein Seil gespannt, an dem ein goldener Stern hing, den die Sonne den ganzen Abend über anstrahlte – Kitsch, klar, aber SO SCHÖN! Wir aßen auf einer Terasse in der Schlucht, schlenderten danach bis spät in die Nacht durch den Ort und tranken ein teures Bier nach dem anderen. Vive la France.
Tja, der Abend in Moustiers markierte schon die Halbzeit der Tour. Über die Rückfahrt berichte ich in den nächsten Tagen auf dieser kleinen Seite
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Moustiers-Sainte-Marie

Moustiers-Sainte-Marie

Moustiers-Sainte-Marie

Verdon-Schlucht



Col de la Bonette



Col d'Izoard

Briancon

Briancon

Briancon






Jura

Jura

Montbeliard

Montbeliard