18.04.2021

972 Pannen und ein großartiger Film


Es muss irgendwann im Jahr 2014 gewesen sein, als ich im Internet auf eine Website namens Leavinghomefunktion stieß. Der seltsame Name spielte auf die "Coming-home-Funktion" moderner Autos an, mit denen sie auch nach dem Abschließen noch ein paar Sekunden lang mit den Hauptscheinwerfern den Heimweg beleuchten - sollte aber wohl auf irgendeine Weise das Gegenteil dieser spätkapitalistischen technologischen Überfürsorglichkeit ausdrücken. 

Mir erschien das furchtbar gezwungen, und als ich dann noch las, dass hier fünf junge Kunststudierende (!) auf alten Urals (!!) auf dem Landweg durch Asien (!!!) nach New York (!!!!) gelangen wollte, musste ich lachen. Keine 50 Kilometer weit kommen die mit den Dingern, dachte ich bei mir. Andererseits: Die drei jungen Frauen und zwei Jungs hatten in Halle studiert, und Kunststudenten aus Halle kannte ich ein paar. An der Kunsthochschule Burg Giebichenstein gibt es nämlich nicht nur Ateliers und verrauchte Partykeller, sondern auch eine voll ausgerüstete Metallwerkstatt, in der man nach Herzenslust Drehen, Fräsen und Schweißen (lernen) kann. Ich weiß nicht, ob die fünf von Leavinghomefunktion dort ebenso viel Zeit verbracht haben wie meine Freunde Max und Stefan, aber was die beiden in Sachen Motorradreparatur und -umbau drauf haben, dagegen bin ich ein unfähiger Wicht.

Doch zurück zu den Amerikareisenden. Ich verlinkte ihre Website auf Rasmussen und verfolgte ihre Reise fortan mit Interesse und wachsender Faszination. Die kamen ja wirklich voran. Sie schafften es, die russischen Uraltboxer auf der Straße zu halten, und überwanden offensichtlich jede technische und sonstige Herausforderung.

Völlig neue Motorrad-Abenteuer

Wer mehr wissen will, sollte sich unbedingt ihren Film "972 Breakdowns" anschauen. Ich spoilere jetzt mal und verrate, dass die Truppe es tatsächlich auf den Urals nach New York geschafft hat. Und sie wollten nicht einfach nur durchkommen. Es ging ihnen offenbar auch darum, Dinge auszuprobieren, die (vermutlich) noch kein Motorradfahrer vorher versucht hat. Dabei haben sie es geschafft, dem Genre "Motorrad-Abenteuerreise"ein paar völlig neue Seiten hinzuzufügen. Und auch der Film stellt eine neue Benchmark in diesen Segment dar, vor allem vor dem Hintergrund, dass kein Kamerateam im Begleitfahrzeug dabei war und während der Reise auch nicht unbedingt die filmische Dramaturgie im Mittelpunkt stand, sondern das Abenteuer.

 Der Film konzentriert sich auf die Strecke durch Sibirien und die Mongolei. Schon allein die großartigen Landschaftsbilder lohnen das Zusehen, erst recht aber die Szenen aus dem Reisealltag, die Bewältigung der zahllosen Pannen und die Begegnungen mit den Menschen entlang der Reisestrecke. Die reflektierten und oft selbstironischen Offkommentare heben sich wohltuend ab von dem trockenen Gelaber, das man sonst oft in Reisevideos hört ("Und dann gelangten wir nach..."). Und der eigens komponierte Soundtrack ist ebenfalls großartig.

Absolut fesselnd vor allem für einen Motorradfahrer sind aber die Fahrszenen. So bewältigen die Reisenden die bekannte Kolyma-Route im russischen Fernen Osten mit ihren unzähligen Flussdurchfahrten, indem sie die Gespanne immer wieder aufs Neue mit einem Flaschenzug durch das Wasser ziehen. Noch viel krasser geht es auf einem alten, aufgegebenen Teilstück der "Straße der Knochen" zu, auf der es zwischen den Flussdurchfahrten eigentlich auch keine Straße mehr gibt. Aber auch dort kommen sie irgendwie durch, und als es wirklich nicht mehr weitergeht, kommt von irgendwo ein rettender Russe mit seinem SIL-Lkw her. Man muss eben auch Glück haben.

Nich weniger atemberaubend und der absolute Höhepunkt der Films ist die Befahrung des Flusses Kolyma mit - jawohl - den zu einem Floß verbundenen Ural-Gespannen. Die Reisenden haben es tatsächlich geschafft, Schiffsschrauben an die Endantriebe der Urals zu montieren und damit das Floß steuerbar zu machen. Eine unglaubliche Leistung. Und nach dem Ende der Flussreise funktionierten sie das Floß zu einem Anhänger um, der für die weiteren Wasserdurchquerungen als mobile Brücke genutzt wurde. Das muss man gesehen haben. 

Ich kann euch den Film "972 Breakdowns" nur wärmstens ans Herz legen. Pandemiebedingt wurde er bislang nur in wenigen Kinos gezeigt. Doch im Onlineshop von Leavinghomefunktion könnt ihr die DVD erwerben. Hoffentlich könnt ihr noch einen DVD-Player auftreiben. Aber das ist eine Herausforderung, dich sich sicher einfacher bewältigen lässt als eine Reise nach New York. Auf dem Landweg. Mit dem Ural-Gespann.